Festivalbericht San Sebastián 2013

San Sebastián 2013 – Fotoalbum auf G+
San Sebastián 2013 – Fotoalbum auf G+

Das 61. Internationale Filmfestival (20.-28.9.2013) war gleichzeitig mein 19. Festival in Folge (bin ununterbrochen seit 1995 dort). Ich habe 49 Filme gesehen – und btw in der Mitte des Festivals schrecklich unter den Wahlergebnissen aus Deutschland gelitten. 10 der gesehenen Filme, die ich für besonders sehenswert halte, sollen hier – wie immer – kurz vorgestellt werden. Resümee vorneweg: Das Festival hat sich wieder einmal gelohnt. Mein Schwerpunkt liegt immer auf den spanischsprachigen Filmen, das entspricht auch dem Großteil der auf dem Festival gezeigten Filmen, von daher sollte der hohe Anteil des Cine aus España und aus Latinoamérica also hier nicht verwundern. Aber selbstverständlich schaue ich auch immer fast den kompletten Internationalen Wettbewerb und einige Filme aus den Nebenreihen (dieses Jahr waren die Reihen z.B.: Neue Regisseure, Perlen anderer Festivals, Animationsfilme, Abenteuer Kino, japanisches Kino, siehe «Sections and Films» auf der Website). Das Programm ist so voll gepackt, man kann gar nicht alles sehen, selbst wenn man es wollte. Ich schaue – wie langjährige LeserInnen dieses Blogs schon wissen – immer 5-6 Filme pro Tag, das ist für die Dauer von 9 Tagen das Maximum an Aufnehmbarem und außerdem recht anstrengend. So viel zu den Zahlen.

Ich fange an mit dem verdienten Gewinner, ausgezeichnet mit der Concha de Oro, der goldenen Muschel, als bester Film (Filmbeschreibungen aus dem Festival jeweils in den Titeln auf spanisch und englisch verlinkt):

1. Pelo maloBad Hair

von Mariana Rondón aus Venezuela.

In diesem wunderbaren Sozialdrama geht es um einen kleinen Jungen (9) und seinen ganz besonderen Blick auf die Realität. Und um die Angst seiner alleinerziehenden Mutter, das Junge könne “kein richtiger Mann” werden – oder am Ende sogar schwul sein. Denn, wenn er bei der Großmutter ist, singt und tanzt er, zieht einen von der Oma geschneiderten Künstler-Anzug (wie den in untigem Video des Vorbildes zu sehenden) an und gelt sich das Haar. Das “schlechte”, da krause, Haar (pelo malo – so der Filmtitel) missfällt ihm am meisten. Er möchte glattes Haar haben. Dafür schmiert er sich sogar Mayonnaise rein. Und das Lied, dessen Text er nach Einweisung durch die Oma lernt, ist ein Ende der sechziger Jahre in Venezuela sehr polulärer Song von Henry Stephen, dem ersten Rock’n-Roller des Landes (Vorsicht: Ohrwurm-Charakter):

Die Botschaft des Filmes, subtil vermittelt, ohne jeden Zeigefinger: «Ser diferente no es un problema, es lo mas hermosa que tiene el ser humano». Zu deutsch: «Anders sein ist kein Problem, es ist das wunderbarste, was uns Menschen passieren kann», sagt die Regisseurin Mariana Rondón, noch tief bewegt von der Preisübergabe durch Jury-Präsident Todd Haynes der das einstimmige Votum der Jury betont hat:

2. Sigo Siendo (Kachkaniraqmi)I´m Still

von Javier Corcuera aus Peru.

Über diesen Dokumentar-Film hab ich ja schon von San Sebastián aus gebloggt, weil wir das Glück hatten, ein Live-Konzert in einer baskischen Bar mit den beiden Sängerinnen aus dem Film zu erleben. Vor allem die unverwechselbare Stimme von Sara Van hat es mir angetan, zu hören in meinem Blogartikel). Dort hatte ich ja auch den wunderbaren Filmtitel Sigo siendo (zu deutsch: «Ich bin noch da» oder «Wir sind noch da») erklärt. Der in seiner Art an «Buena Vista Social Club» erinnernde Film hat nicht nur die Musik zum zentralen Inhalt, sondern auch die Situation der indigenen Bevölkerung – etwa den Kampf ums Wasser – im aktuellen Peru.

3. PrisonersPrisineros

von Denis Villeneuve aus USA.

Hugh Jackman war auch da, er bekam schließlich den Ehrenpreis für sein Lebenswerk. Die Teenager in den Straßen Donostias kreischten ganz gewaltig, wenn er zu sehen war. Ich finde – genau wie bei der Berlinale – des Gehabe um die Hollywood-Stars ja mehr als affig. Aber den Film, in dem er spielte, fand ich sehr gut gemacht. Prisoners dauert 146 Minuten. Das sind zweieinhalb Stunden. Und der Film um die verzweifelte Suche nach zwei verschwundenen kleinen Mädchen ist keine Minute zu lang. Gut gemachtes Hollywood-Kino mit extrem guten Darstellern, nicht nur Hugh Jackman und Jake Gyllenhaal. Und, wenn ich ehrlich bin, tut das manchmal auch ganz gut so einen Film zu sehen, in einem Filmfestival, das ansonsten doch oft sehr viele schwierige, langsame, dem Zuschauer viel abfordernde Filme zeigt, da ist so was ganz erholsam. Und wie gesagt, sehr spannend. Das Ende ist brilliant. Ich deute natürlich nichts an, um nicht zu spoilern. Filmstart in Deutschland unter dem Titel «Spurlos verschwunden» nächsten Donnerstag, 10. Oktober (hier der deutsche Trailer). Unbedingt reingehen. Lohnt.

4. El médico alemánWakolda

von Lucía Puenzo aus Argentinien.

Der in Katalonien aufgewachsene Schauspieler Alex Brendemühl hat einen deutschen Vater und eine spanische Mutter. Und eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Nazi Joseph Mengele, den er in dem Film spielt. Er äußert sich zu seiner Rolle in diesem Interview während des Festivals: Desayunos Horizontes. Lucía Puenzo, die wieder Mal auch das Buch zu ihrem Film geschrieben hat, hat ihm eine Mail geschrieben, mit seinem Foto neben dem des nach Argentinien geflohenen Nazis. Zu dem wirklich gut gemachten Film, in dem auch die junge Schauspielerin Florencia Bado brilliert. Sie spielt die 12-jährige Lilith, die für ihr Alter zu klein ist und die noch wachsen möchte und deshalb mit Zustimmung der Mutter in die medizinischen Experimente des médico alemán eingebunden wird.

5. HeliHeli

von Amat Escalante aus Mexiko.

Der sicherlich härteste Film des Festivals, und trotzdem auch einer der besten, ist Mexikos Kandidat für den Oscar als bester nicht englischsprachiger Film. Die Gewalt in Mexiko ist ein Thema, von dem ich ja auch fortlaufend hier im Blog berichte. Dieser Film zeigt sie schonungslos und doch noch so angemessen, dass man es gerade aushalten kann. Hier ein deutschsprachiger Arte-Beitrag zum Film anlässlich seiner Teilnahme in Cannes, wo er im Mai mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Der in Barcelona geborene Mexikaner Amat Escalante wurde zusätzlich in Cannes mit dem Preis als bester Regisseur bedacht. Andrea Vergara, in der Rolle der 12-jährigen Schwester von Heli, hat eine Präsenz auf der Leinwand, die man so schnell nicht vergisst, wenn man sie einmal erlebt hat. Während des Festivals in San Sebastián habe ich gehört, dass ein deutscher Verleiher dabei ist, diesen außergewöhnlich guten Film auch bei uns ins Kino zu bringen. Ich drücke euch die Daumen, dass dem so sein wird, damit ihr in sehen könnt.

6. Le Week-EndLe Week-End

von Roger Michell aus UK.

Was Woody Allen mit «Midnight in Paris» nicht geschafft hat, ist Notting Hill-Regisseur Roger Michell und Drehbuch-Autor Hanif Kureishi (“Mein wunderbarer Waschsalon”) gelungen: einen wunderbaren Film über Paris zu machen. Doch, noch viel mehr als von Paris handelt er von einer in die Jahre gekommenen Liebe zwischen zwei Menschen, die 30 Jahre nach ihrer Hochzeitsreise nach Paris eine Art zweiter Flitterwochen in die Stadt der Liebe machen. Jeff Goldblum spielt auch mit, doch das ist nicht so wichtig. Das großartige Paar Lindsay Duncan und Jim Broadbent spielen ihn an die Wand und sich in unsere Herzen. Bis zum Filmstart in Deutschland müsst ihr euch noch ein Weilchen gedulden: 30. Januar 2014.

7. Like Father Like SonSoshite chichi ni naru

von Hirokazu Kore-eda aus Japan.

Das Publikum irrt selten, so auch in diesem Fall. «Like Father Like Son» hat in San Sebastián den Publikumspreis gewonnen. Behandelt wird ein sicher jede Familie erschütterndes Thema: nach 6 Jahren erfahren zwei Elternpaare, dass ihre Kinder kurz nach der Geburt vertauscht wurden. Neben der universellen Problematik, wie man mit so einer Erfahrung wohl selbst umgehen würde, gibt der Film Einblick in das Alltagsleben zweier sehr unterschiedlicher Familien. Und das soziale Gefälle macht den Film letztlich auch zu einem politischen Film. Zurück zum Privaten: Was zählt mehr, was macht eine Familie aus: gemeinsam verbrachte Zeit oder die Blutsbande? Von dieser spannenden Frage lebt der Film. Der Zuschauer kann sie sich beim Betrachten beantworten. Hirokazu Kore-edas Verdienst ist es, daraus kein sentimentales Rührstück gemacht zu haben. Deutscher Beitrag zum Film auf Arte.

8. Las Horas MuertasThe Empty Hours

von Aarón Fernández aus Mexiko.

Für mich die Entdeckung aus der Reihe Nuevos Directores (Neue Regisseure). Und das wohltuende Beispiel dafür, dass ein langsamer Film keineswegs langweilig sein muss. Sebastián, 17, springt für seinen Onkel ein und kümmert sich während dessen Abwesenheit um ein Motel an der Küste von Veracruz. Miranda, 35, trifft sich dort von Zeit zu Zeit mit ihrem Liebhaber. Zeit ist das Stichwort, denn die vergeht oft sehr langsam, wenn der Lover Miranda warten oder gar sitzen lässt. Eine interessante Annäherung zwischen dem jugendlichen Aushilfsmanager und der attraktiven Mittdreißigerin, deren Zug nach eigener Aussage schon abgefahren ist, bahnt sich an. In der Hauptrolle toll gespielt von Kristyan Ferrer, den man vor ein paar Jahren (2009) schon in dem preisgekrönten Film Sin Nombre sehen konnte (hier spricht er im Interview über seine damalige Rolle als El Smiley).

9. La vie d’AdèleBlue is the Warmest Colour

von Abdellatif Kechiche aus Frankreich.

Auf diesen in Cannes so hoch gelobten – und mit der Goldenen Palme prämierten – Film war ich sehr gespannt, obwohl skeptisch, ob ich die drei Stunden (!) aushalten würde. Und ja, ich habe sie ausgehalten. Und ja, es ist ein ganz hervorragender Film. Auch hier gibt es dank Cannes-Teilnahme schon einen deutschsprachigen Arte-Beitrag zum Film, der unter dem Titel «Blau ist eine warme Farbe» am 19.12.2013 bei uns in die Kinos kommt. Es geht um Adèle und Emma, die eine 15-jährigen Schülerin die andere Kunststudentin. Zwei junge Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und ihre leidenschaftliche, lesbische Beziehung. Getragen wird der Film von der wirklich herausragenden Darstellung der beiden Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos. Kein Wunder, dass der Hauptpreis in Cannes erstmals nicht nur für den Film, sondern ganz bewusst auch für die Hauptdarstellerinnen galt.

10. Twenty Feet From Stardom(span. Filminfo)

von Morgan Neville aus USA.

Last but not least ein Dokumentarfilm ganz besonderer Art. Twenty Feet From Stardom ist ein Glücksfall. Er zeigt einem Stimmen, die man häufig schon kennt, die man aber nicht mit einem Gesicht verbindet. Der Einsatz dieser Stimmen, das Hauptkapital der Sängerinnen aus dem Backgroundchor, liegt lange zurück. Was ist aus diesen Frauen geworden? Wollten sie eine Solokarriere schaffen, oder haben sie diese – also den Schritt 20 feet in Richtung stardom – sogar geschafft? Für mich die Entdeckung des Films: Lisa Fischer, was für eine Stimme. Hier ganz groß: The Rolling Stones Feat Lisa Fischer – Gimme Shelter. Sehr toll, wie diese Frauen hier in den verdienten Fokus gerückt werden. Die Interviews mit Bruce Springsteen, Stevie Wonder, Mick Jagger oder Sting, die Profis genug sind, ganz klar auszusprechen, dass sie immer wussten, was sie an ihren Background-Stimmen hatten, zeigen nur um so deutlicher, dass die wahren Stars nicht immer nur ganz vorne auf der Bühne stehen.

14 Kommentare zu „Festivalbericht San Sebastián 2013“

  1. @thomas: Oh, den Song kannte ich gar nicht. Sehr starke Stimme. Als sie ihre Solo-Karriere starten wollte, – so eine Szene aus dem Film – hat man ihr gesagt: keine Chance, neben Aretha Franklin und Diana Ross zu bestehen. Was für ein Irrtum.

  2. Willkommen zurück und mit das mit einer Menge Filmmaterial im Gepäck. Bin immer wieder beeindruckt, wie Sie das Programm durchhalten. Das Zauberwort ist Leidenschaft.

    Werde diesen kompletten Beitrag in aller Ruhe am Wochenende genießen, schon beim Überfliegen habe ich den einen oder anderen interessanten “Teaser” gelesen, freue mich schon drauf.

  3. Ich schließe mich Frau Jeky an und vertage das Lesen dieses ausführlichen Berichts auf einen geruhsameren Zeitpunkt nächste Woche. Vorab herzlichen Dank für deine Mühe!

  4. Vielen Dank für deinen – once again – ganz persönlichen Festivalbericht. Wie bunt das Kino doch sein kann! Ich hoffe, dass ich den ein oder anderen Film zu sehen kriege.

  5. Für Prisoners hatte ich bereits den Trailer vorher gesehen und fand ihn einerseits schon mal interessant – andererseits habe ich ein großes Misstrauen vor Trailerfilmen entwickelt. Scheint so, als könnte ich da trotzdem mal reingehen.

  6. Danke für deinen ausgezeichneten Bericht! Offenbar hast du das eine oder andere Kleinod entdeckt.

    Dass Hugh Jackman jetzt bereits für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird, erschließt sich mir allerdings nicht ganz. 🙂

    1. @Tobias: Zu Hugh Jackman: Hollywood-Stars, die auf Internationale Filmfestivals reisen, bekommen solche Preise, auch wenn ihr halbes Leben noch vor ihnen liegt. 😉

  7. Pingback: Lateinamerika Filmtage im 3001 Kino – Empfehlung: Pelo Malo | Text & Blog

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