Festivalbericht Havanna 2016

Das Internationale Filmfestival des Lateinamerikanischen Kinos ist ein richtig großes Festival. Vom 8.-18. Dezember 2016 sind in mehreren über Havanna verteilten Kinos 400 Filme und Dokumentationen gezeigt worden. In 10 Tagen habe ich 45 davon gesehen, also viereinhalb pro Tag. Der übliche Filmmarathon, wie ich ihn schon von der Berlinale und von San Sebastián gewohnt bin. Dieses Mal unter etwas erschwerten Bedingungen, da alles im Wechselspiel zwischen großer karibischer Hitze und auf Kühlschranktemperaturen herunter gekühlten Kinos statt gefunden hat. Ein Wunder, dass ich nicht krank geworden bin.

Die erste Filmschiene begann morgens um 10 Uhr, die letzten Streifen wurden abends ab 22:30 Uhr gezeigt. Bis auf einige wenige Pannen war das Festival wirklich sehr gut organisiert. Die Atmosphäre in den kubanischen Kinos ist immer eine ganz besondere. Wenn das Handy klingelt, wird das Gespräch auch schon mal angenommen und dem Anrufenden wird für eine gut hörbar erläutert, dass man gerade im Kino sei. Und wenn einem etwas auf der Leinwand nicht passt, wird es auch schon mal einfach so vom Publikum entsprechend laut kommentiert. Das kann schon nerven, es war auf jeden Fall eine ganz neue Kinoerfahrung.

Vor jedem Film wurde der Festivaltrailer gezeigt, die Melodie des Filmchens begleitete uns als Ohrwurm durch die Festivaltage in Havanna:

Hier nun die TOP 10 der sehenswerten Filme aus meiner persönlichen Sicht, in chronologischer Reihenfolge, wie ich sie sah; die Reihenfolge stellt also keine Wertung dar:

1. Desierto

von Jonás Cuarón, Mexiko 2015

Der 1981 geborene Sohn des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón hat mit Desierto (Wüste) einen modernen Western geschaffen. Er spielt an der Grenze zwischen USA und Mexiko und handelt von dem US-amerikanischen selbsternannten Grenzschützer Sam, der gemeinsam mit seinem blutrünstigen Hund auf Menschenjagd geht. Eine Gruppe von Mexikanern, angeführt von Moisés (gespielt von Gael García Bernal) versucht illegal die Grenze zu überqueren und vor der tödlichen Verfolgung durch Sam zu fliehen. Spannungsgeladen, brutal und getragen von guten schauspielerischen Leistungen ist Desierto ein harter, aber sehr guter Film. Auf dem Festival wurde er mit dem Hauptpreis als bester Spielfilm, dem Coral, ausgezeichnet.

2. CubaJazz

von Max Alvim, Brasilien 2016 (Doku)

Leider gibt es von diesem tollen Film über den Jazz in Kuba noch keinen Trailer. Solange zeige ich hier ein kurzes Video der Regisseure, das sie zur Vorbereitung ihres Filmes veröffentlicht haben:

CUBAJAZZ from Max Alvim

3. Últimos días en La Habana

von Fernando Pérez, Kuba 2016

Fernando Pérez (72) ist einer der wichtigsten kubanischen Regisseure. Vor Jahren hat mich schon sein Film Madagaskar auf der Berlinale begeistert. Mit «Últimos días en La Habana» hat er nun einen klugen Film über den Alltag in Kuba gemacht. Gezeigt wird die Freundschaft zwischen einem, der auf die Gestattung seines Ausreiseantrages wartet, und einem Todkranken, der vom auf seine Ausreise Wartenden gepflegt wird. Humorvolle Einblicke in den tagtäglichen Überlebenskampf in der kubanischen Hauptstadt zeichnen diesen Film genauso aus wie seine melancholisch traurigen Momente. Der Film wurde von der Jury des Festivals quasi mit dem zweiten Preis, dem Premio Especial del Jurado, ausgezeichnet.

4. Redemoinho

von José Luiz Villamarim, Brasilien 2016

Redemoinho (Wirbel) handelt vom Wiedersehen zweier ehemaliger Freunde zur Weihnachtszeit in ihrem Dorf. Der eine ist dort geblieben, der andere hat sein Glück in der Stadt versucht. Ein zunächst harmloser Rückblick auf das bisher verbrachte Leben der beiden etwa Vierzigjährigen mündet in einer harten Konfrontation und in der Aufarbeitung eines verdrängten Geschehens aus der Jugend.

5. The Salesman

von Asghar Farhadi, Iran 2016

Ein Schauspielerpaar muss seine Wohnung im Zentrum Teherans verlassen und findet eine neue Bleibe. Die beiden spielen in einer Inszenierung von “Tod eines Handlungsreisenden”. Was sie nicht wissen: die Vormieterin hat als Prostituierte gearbeitet. In einer Nacht, in der die Frau alleine zuhause ist, kommt eine ehemaliger Kunde der Vormieterin. Das bis dato idyllische Leben des Paares wird zum Albtraum. Der Film wurde schon in Cannes zurecht mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet.

6. Algo mío – Argentiniens Geraubte Kinder

von Regina Mennig und Jenny Hellmann, Deutschland 2016 (Doku)

Diese sehr gut gemacht Doku widmet sich dem traurigen Thema der in der Militärdiktatur geraubten Kinder, die regimetreue Familen zur Adoption gegeben wurde, während deren Eltern verschwanden und meist ermordet wurden.

Viele Infos zu dieser Doku gibt es in dem ausführlichen Radio-Dossier (20 Min.) der Regisseurin Regina Mennig auf Dradio Kultur: Argentiniens geraubte Kinder

7. Un suelo lejano

von Gabriel Muro, Argentinien 2016 (Doku)

Der Trailer lässt sich momentan leider nicht abspielen. Wenn es einen neuen gibt, ergänze ich das hier. Die Doku hat auch eine Facebook-Seite.

Eine abgefahrene Geschichte, die zwei Argentinier hier aufgearbeitet haben: Ende des 19. Jahrhundert sind die Schwester von Friedrich Nietzsche und ihr Mann Dr. Bernd Förster, nach Paraguay aufgebrochen, um dort mit einer Handvoll aus Deutschland mitgebrachten Auswanderern die Kolonie Nueva Germania zu gründen. Diese Kolonie gibt es immer noch. In der Doku werde die Feierlichkeiten zum 127.-jährigen Bestehen gefeiert. Ein sonderbares Gründungspaar mit antisemitischen und auf Vegetarismus fußenden Vorstellungen. Noch heute gibt es Familien in Nueva Germania die deutsch sprechen. Im Film wird aus Briefen von Nietzsches Schwester und von Nietzsche zitiert, der sich von seiner Schwester distanziert hatte (kein Wunder bei den seltsamen Vorstellungen von ihr und ihrem Mann. Dr. Förster war zudem depressiv und hat sich mit 45 umgebracht. Elisabeth Nietzsche ist dann wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Eine wirklich abgefahrene Geschichte, die ich gar nicht kannte.

8. Esteban

von Jonal Cosculluela Sánchez, Kuba 2015

Der neunjährige Estaban, der bei seiner Mutter in ärmlichsten Verhältnissen in Havanna aufwächst, hat einen Traum: er möchte Klavierstunden nehmen. Ein unter den Bedingungen absurd erscheinender Traum. Der Film lebt vom großartigen Schauspiel des Kindes und von der Umsetzung der Idee, dass es trotz schlechter Voraussetzungen möglich sein kann, sich einen unrealistisch wirkenden Traum zu erfüllen.

9. Aquarius

von Kleber Mendonça Filho, Brasilien 2016

Der Film mit Sônia Braga, die für ihre Rolle als beste Schauspielerin auf dem Festival in Havanna ausgezeichnet wurde, ist 145 Minute lang, und doch keine Minute zu lang. Man wird schon beim Intro mit wunderschönen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Recife aus den 60-er Jahren in seinen Bann gezogen. Zum Glück haben wir ihn im traditionellen Yara-Kino mit seiner riesigen Leinwand gesehen. Braga spielt die 65-jährige Witwe Clara, die von Immobilienhaien gedrängt wird, ihre Wohnung zu verkaufen. Alle anderen Nachbarn haben schon verkauft, doch Clara weigert sich, dem geplanten Neubau Platz zu machen. Stoisch hält sie in ihre Wohnung in Strandnähe aus. Die Situation eskaliert zusehends. Ein Film über eine starke Frau. Und ein Film mit toller Musik.

10. El viento sabe que vuelvo a casa

von José Luis Torres Leiva, Chile 2016 (Doku)

Auf dem Festival in Havanna wurden sehr viele Dokus gezeigt, das merkt man auch am relativ hohen Doku-Anteil meiner Top 10. Und dieser Film hat sogar den Preis als beste Dokumention des Festivals bekommen. Der Inhalt: Ein Filmemacher kommt nach Chiloé, einer der größten Inseln an der chilenischen Küste, und plant seinen nächsten Film. In der Doku lernen wir mit ihm die Menschen und das isolierte Leben auf der Insel kennen. Wunderbare Einblicke in eine abgelegene Welt. Wir erkunden sie mit dem geduldigen Herantasten des Regisseurs.

So, das war’s zu den Filmen. Das Festival zu besuchen – ich hatte lange davon geträumt – hat sich jedenfalls sehr gelohnt. Das war eine wirklich unvergleichliche Erfahrung. In einem weiteren Blogbeitrag werde ich noch jede Menge Fotos zeigen und die Eindrücke von meinem zweiten Kuba-Aufenthalt – nach meiner Dienstreise von 2008 – beschreiben.

10 Kommentare zu „Festivalbericht Havanna 2016“

  1. Pingback: Impressionen aus Havanna 2016 | Text & Blog

  2. Da waren ja wieder sehr interessante Filme dabei. Man darf gespannt sein, ob und wann es einer davon in unsere Kinos schafft. Danke für die Auswahl!

  3. Vielen Dank für den ausführlichen Festival-Bericht.
    Wie immer bin ich sehr gespannt, was ICH davon in den Kinos zu sehen bekomme…
    Etwas erstaunt es mich, dass der iranische Film dabei war – immerhin geht es ja um lateinamerikanisches Kino. Oder ist es in Havanna so wie in Berlin, dass die Filme der Iraner automatisch gezeigt werden?
    Ein kleiner Verschreiber ist noch drin: Statt SALESman (Vertriebler) SAILSman (von Segelboot)… was würde Freud dazu sagen?

    1. @Carmen: Danke für den Hinweis auf den Verschreiber. Wird korrigiert. 😉 Obwohl es ein Festival des lateinamerikanischen Films ist, gibt es immer auch Filme aus anderen Ländern (sogar aus den USA, Oliver Stone war z.B. da mit seinem Snowden-Film). Ein Land wird immer in einer ausführlichen Reihe vorgestellt, dieses Mal war es Deutschland (es lief sogar “Toni Erdmann”).

  4. Danke für diese Ergänzungen! Sehr interessant mti dem Länderschwerpunkt. TONI ERDMANN rockt zur Zeit wohl auch die USA. Drücke Maren Ade die Daumen für den Auslands-Oscar… wobei man da ja immer nicht weiß, ob das wirklich förderlich ist…
    Ein außergewöhnlicher Film.
    Vielleicht läuft der SALESMAN ja auch in Berlin?

    1. SALESMAN läuft im Februar im Koki in Lübeck 🙂 Allerdings genau parallel zur Berlinale und das wollt ich diesmal doch wieder hin… Mal sehen, was ich sehen werde:-)

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