Bei meinem Jubiläumsaufenthalt, meinem 30. Filmfestival in San Sebastián seit 1995, habe ich 45 Filme in neun Tagen gesehen. Das Festival war wie immer großartig und dieses Mal hatte sogar mein Favorit gewonnen (was selten passiert). Wie immer stelle ich hier im Blog meine subjektive Auswahl vor: die für mich zehn besten Filme. Der Link im Titel führt auf die Filmbeschreibung des Festivals. Die Reihenfolge stellt keine Wertung dar, sondern ist die chronologische Abfolge, wie ich sie auf dem Festival gesehen habe. Los geht’s:
1. 27 noches
Von Daniel Hendler, Argentinien 2025
Der Auftaktfilm in das 73. Filmfestival von San Sebastián bot einen wunderbaren Einstieg in das Festival. Daniel Hendler, den wir hier schon oft als Schauspieler auf der Leinwand sahen, ist diesmal nicht nur in der Hauptrolle zu sehen, sondern hat auch das Drehbuch geschrieben und Regie geführt für diesen argentinischen Film, der auf wahren Tatsachen beruht. 27 Nächte ist die Anzahl der Nächte, die die 83-jährige Martha Hoffmann zwangseingewiesen in einer psychiatrischen Anstalt verbringt. Ihre beiden Töchter haben die vermögende Mutter einweisen lassen, weil sie Angst hatten, dass diese das Vermögen an ihre jungen Freunde verschenkt. Daniel Hendler soll in seiner Rolle als Gutachter nun prüfen, ob die Mutter noch zurechnungsfähig ist. Ein wunderbarer Kontrast zwischen einem verklemmten Gutachter und einer dem Leben, der Sexualität und dem Alkohol zugewandten, älteren Dame.
2. Deux pianos
Von Arnauld Desplechin, Frankreich 2025
Arnaud Desplechin zeigt in seinen Filmen gerne Menschen in chaotischen Situationen. Das gilt auch für seinen neuesten Film, den in der Hauptrolle mit François Civil hervorragend besetzten „Deux pianos“. Der Pianist Mathias Vogler (François Civil) kehrt nach einem langen Exil nach Frankreich zurück und trifft sich mit seiner Mentorin Elena (Charlotte Rampling) wieder, um ein Konzert vorzubereiten. In einem Park führt eine Begegnung mit einem Kind, das genau wie er aussieht, zu Claude, der Frau, die er einst geliebt hat.
3. Maspalomas
Von Jose Mari Guenaga, Spanien 2025
Der 76-jährige Vicente lebt seine Homosexualität in dem Ferienort Maspalomas auf Gran Canaria aus. Nach der Trennung von seinem langjährigen Freund sehen wir ihn zu Beginn des Filmes beim Cruisen in der Stranddüne. Die voyeuristischen Blicke der Männer, die hier auf der Suche nach Leidenschaft sind, stehen den – gewollt oder ungewollt – voyeuristischen Blicken von uns Zuschauern in nichts nach, wie wir den Männern bei der Erfüllung ihrer Leidenschaft zuschauen. Durch einen Schlaganfall wird Vicente in das Leben zurückgeworfen, das er vor Jahrzehnten im Baskenland zurückgelassen hatte, als er Frau und Tochter verlassen hatte, um ein neues Leben zu beginnen, um seine wahre sexuelle Orientierung auszuleben. Zurück in seiner Heimatstadt San Sebastián wird aus dem bunt gekleideten, lebenslustigen Alten ein nicht geouteter grauer, alter Mann in einem Rehabilitationszentrum.
4. Ungrateful Beings
Von Olmo Omerzu, Tschechien 2025
Trailer Dailymotion
(Der Trailer ist leider wenig aussagekräftig. Sobald es einen besseren gibt, werde ich ihn ersetzen.)
David nimmt seine beiden Kinder mit in den Urlaub an die Adria, in der Hoffnung, ihre zerbrochene zweisprachige Familie zusammenzuhalten. Seine 17-jährige Tochter Klára, die mit einer Essstörung zu kämpfen hat, verliebt sich in einen einheimischen Jungen, Denis. Als er des Mordes beschuldigt wird, reist David mit den Kindern nach Hause. Kláras Zustand eskaliert und sie landet im Krankenhaus. Das Einzige, was ihre Eltern verbindet, ist ihr Bedürfnis, sie zu retten. Und in ihrer Verzweiflung beschließen sie eine verzweifelte Maßnahme.
5. Los domingos
Von Alauda Ruiz de Azúa, Spanien 2025
Weil ich von den Vorgängerfilmen „Los cinco lobitos“ und vor allem von der Serie „Querer“ (siehe mein Festivalbericht 2024) von Alauda Ruiz de Azúa so angetan war, war „Los domingos“ der Film des Festivals, auf den ich am meisten gespannt war. Sind die Erwartungen hoch, besteht jedoch immer die Gefahr, dass man enttäuscht wird. „Los domingos“ hat alles andere als enttäuscht. Für mich war es der beste Film des Festivals. Und er wurde auch mit „Concha de Oro“ als solcher ausgezeichnet. Der Inhalt ist schnell erzählt: ein 17-jähriges Mädchen steht vor der Entscheidung ins Kloster einzutreten. Die Familie, allen voran ihre Tante, versuchen sie von dieser Entscheidung abzubringen. Das große Plus des Films: er wertet nicht. Und das scheint mir die herausragende Fähigkeit von Ruiz de Azúa zu sein: sie nimmt keine Bewertung vor, sondern überlässt die Entscheidung dem Zuschauer.
6. La infiltrada
Von Arantxa Echevarría, Spanien 2025
Letztes Jahr wurde bereits in San Sebastián auf Riesenbanner an Hauswänden für „La infiltrada“ geworben, nur sehen konnte man den Film in Donosti im Vorjahr noch nicht, der erst kurz nach dem Festival Anfang Oktober 2024 seinen Kinostart hatte.
Dieses Jahr konnten wir das nachholen, und es hat sich gelohnt. Gezeigt wird der auf einem wahren Fall beruhende Undercover-Einsatz einer Polizeiagentin, die in die ETA eingeschleust wird, um diese zu bekämpfen. In den Hauptrollen genial besetzt mit Carolina Yuste und dem eh unfehlbaren Luis Tosar. Es ist eine große Leistung von Arantxa Echevarría, einer Frau, die aus der Stille heraus Widerstand leistet, ein authentisches Gesicht zu geben. Als Regisseurin dringt sie auch in das Genre selbst ein, um es von innen heraus zu sprengen und die Geschichte einer Spionin in eine Art Röntgenaufnahme der Macht, der Angst und des Systems zu verwandeln, das die Gewalt über die Kugeln hinaus aufrechterhält.
7. Un fantasma en la batalla
Von Agustín Díaz Yanes, Spanien 2025
Das hatte ich so auf einem Festival noch nie: dass es zwei Filme gibt, die auf dem gleichen realen Fall basieren, denn genau wie bei „La infiltrada“ behandelt auch „Un fantasma en la batalla“ in abgewandelter Form den Fall der in die ETA infiltrierten Polizeiagentin Aranzazu Berradre Marín. Ich erinnere mich noch gut an den mittlerweile 30 Jahre alten Film „Nadie hablará de nosotras cuando hayamos muerto“ von Díaz Yanes den ich bei meinem ersten Festivalaufenthalt hier gesehen hatte. Díaz Yanes hat sich stets mit großer Sorgfalt um die Regie von Schauspielerinnen gekümmert. Die Darstellung von Victoria Abril in „Nadie hablará de nosotras cuando hayamos muerto“ bleibt allen unvergessen. Hier ist die weibliche Hauptrolle ebenso zurückhaltend wie ausdrucksstark dargestellt. Beeindruckend zu sehen, wie Susana Abaitua, die Selbstsicherheit und Angst miteinander verbindet.
8. Un cabo suelto
Von Daniel Hendler, Uruguay 2025
Das passiert auch nicht so oft, dass man zwei Filme des gleichen Regisseurs auf einem Festival sieht. Hier geschehen mit Daniel Hendlers „Un cabo suelto“, der ja auch schon beim ersten hier vorgestellten Film „27 noches“ Regie geführt hat. Während Letzterer eine argentinische Produktion war, ist dieses eine rein uruguayische Produktion. Jedes Festival hat so genannte kleine Festivalperlen: kleine, unscheinbare Filme, über die man sich freut, sie gesehen zu haben. „Un cabo suelto“ ist so ein Film. Man kann davon ausgehen, dass der Ausgangspunkt für „Un cabo suelto“ (Ein loses Ende) das Wortspiel im Titel war: Im Spanischen kann „cabo“ sowohl einen Polizeibeamten niedrigen Ranges als auch ein „loses Ende“ bedeuten. Der Film spielt mit beiden Bedeutungen: Ein Polizist, der verschwindet, wird buchstäblich zu einem „losen Ende“ in einem Fall. In Daniel Hendlers Film tauchen immer wieder Wortspiele auf, insbesondere in den Dialogen zwischen dem Polizisten auf der Flucht Santiago (Sergio Prina) und der Kassiererin Rocío (Pilar Gamboa). Ihr Running Gag dreht sich um den Slangbegriff „cana“ (Polizist), den sie zu komischen Wortspielen wie „Tropicana“ oder „macana“ (was „Fehler“ bedeutet) weiterentwickeln. Die lose Enden hier sind Santiago selbst, ein Polizist, der aus nie ganz geklärten Gründen aus Argentinien nach Uruguay flieht, während er von zwei seiner Kollegen verfolgt wird. Seine Flucht – und die Verfolgung – bestimmen den Rhythmus dieser ungewöhnlichen Komödie aus dem Gebiet des Río de la Plata.
9. O agente secreto
Von Kleber Mendonça Filho, Brasilien 2025
Mit der Einstufung eines Filmes als „Meisterwerk“ sollte man sehr zurückhaltend sein. Doch ich wage zu behaupten, dass „O agente secreto“ ein Meisterwerk ist. Und dazu noch der Film mit dem besten Soundtrack auf dem Festival. Der Einsatz der Musik hat mich an den aus Tarantinos Filmen erinnert. Der Film nimmt uns mit zurück in der Jahr 1977, in die Zeit der Militärdiktatur in Brasilien. Marcelo – fantastisch gespielt von Wagner Moura-, ein Technologieexperte Anfang 40 mit einer mysteriösen Vergangenheit, ist auf der Flucht. Er kommt während der Karnevalswoche in Recife an, um seinen kleinen Sohn wiederzusehen, der seit dem Tod seiner Frau Fatima bei deren Eltern wohnt. Marcelo muss jedoch bald feststellen, dass die Stadt alles andere als der gewaltfreie Zufluchtsort ist, den er sucht.
10. La misteriosa mirada del flamenco/
Von Diego Céspedes, Chile 2025
Der Film wurde auf dem Festival mit dem Premio Sebastiane ausgezeichnet, der von der Gehitu vergeben wird, der Vereinigung der „Gais, Lesbianas, Trans, Bisexuales e Intersexuales“ des Baskenlandes. Zuvor gewann er bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes den Hauptpreis in der Sektion »Un Certain Regard«. „La misteriosa mirada del flamenco„ spielt in den 1980er Jahren in Chile und erzählt die Geschichte einer Gruppe Transfrauen vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Krankheit Aids. Die 11-jährige Lidia wächst in einer queeren Familie auf, die an den Rand einer ungemütlichen und staubigen Bergbaustadt verbannt wurde. Sie werden beschuldigt, eine mysteriöse Krankheit verursacht zu haben, die sich auszubreiten beginnt und angeblich durch einen einfachen Blick übertragen wird, wenn sich ein Mann in einen anderen verliebt. In diesem modernen Western führt Lidia den Rachefeldzug an und stellt sich der Gewalt, der Angst und dem Hass, wobei die Familie ihr einziger Zufluchtsort ist und Liebe die wahre Gefahr darstellen könnte.