Berlinale-Festivalbericht 2016

Dach des Sony Center am Potsdamer Platz Wieder habe ich seit meiner Rückkehr aus Berlin eine Woche gebraucht, um aus 56 auf der Berlinale gesehenen Filmen die 10 auszuwählen, die ich am interessantesten fand. 56 ist, glaube ich, mein persönlicher Rekord in 21 Berlinalen. Doch es geht mir ja nicht darum, einen Rekord aufzustellen, sondern möglichst viele gute Filme zu sehen. Oftmals Filme, die man sonst gar nicht zu sehen bekommt, weil sie es später nicht ins Kino schaffen. Diesen wünsche ich das, und euch wünsche ich, dass ihr möglichst viele davon zu sehen bekommt.

Die Filmtitel verlinken immer in den Berlinale-Katalog, wo ihr alle Infos und weitere Fotos zum jeweiligen Film findet. Die Reihenfolge der Filme stellt keine Wertung dar, sondern entspricht der chronologischen Abfolge, in der ich sie in Berlin gesehen habe. Here we go: 10 aus 56:

1. Goat

von Andrew Neel, USA 2016

Goat – Excerpt on Vimeo.

In «Goat» wird die Geschichte des 19-jährigen Brad erzählt, der nach einer Party brutal überfallen und ausgeraubt wird und dann an der Uni in eine höchst merkwürdige Studentenverbindung gerät. Ein Jugenddrama um Gruppenzwang und vermeintliche Männlichkeit, widerliche Aufnahmerituale und die vom Protagonisten gespürte und erlittene Feigheit sich diesem Wahnsinn zu entziehen. Von den jungen (meist Laien-)Darstellern beeindruckend gespielt, produziert von James Franco. Hart anzuschauen, aber sehr gut. Gleich nach dem Film hab ich getwittert:

2. Uncle Howard

von Aaron Brookner, Großbritannien / USA 2016

Für mich einer der schönsten Filme der Berlinale, eine kleine, persönliche Filmperle, die es in der Sektion Panorama Dokumente zu entdecken gab. Aaron Brookner hat einen Film über seinen Onkel Howard Brookner gemacht, den er als Kind geliebt und bewundert hat und der 1989 im Alter von 34 Jahren an Aids gestorben war. Howard Brookner, der uns im Film als lebenslustiger Mensch gezeigt wird, hat damals unter anderem einen Film über William S. Burroughs gemacht: «Burroughs the Movie» (1983). Aaron macht sich auf die Suche nach dem Film von damals. Es werde viele – auch private Foto- und Filmmaterialien gezeigt und diese Dokumentation berührt einen immer wieder, weil da ein Mensch viel zu früh aus dem Leben geschieden ist und weil sich der Neffe – zur Drehzeit der Doku so alt wie Howard damals – auf dem schmalen Grat zwischen Denkmalsetzen und persönlicher Verarbeitung der Erinnerung an einen interessanten Menschen bewegt. Sehr sehenswert:

3. Fuocoammare

von Gianfranco Rosi, Italien / Frankreich 2015

Mit «Fuacoammare» (dt: Feuer auf dem Meer) hab ich am 3. Festivaltag den Gewinner schon vorausgesagt. War nicht schwer, das zu tun, denn die Berlinale ist ein politisches Festival. Thema Nummer eins ist momentan die Situation der Flüchtlinge in der Welt. Lampedusa steht dabei besonders im Fokus und der Film zeigt nicht nur das Elend der Menschen auf der Flucht sondern auch die Situation der Bewohner auf der Insel Lampedusa, die mit Tod und leiden auf der Flucht Tag für Tag konfrontiert werden. Durch die – was für ein Kontrast! – manchmal wirklich lustigen Szenen mit einem kleinen Jungen von der Insel (Samuele, 12) hält man das gezeigte Leid als Zuschauer irgendwie besser aus. Sehr nahe gegangen war mir die Szene, in der ein Arzt auf Lampedusa sichtlich entkräftet und geprägt von den gemachten Erfahrungen schildert, was es bedeutet, den fast täglich auf der Insel ankommenden schwer Verletzen zu versuchen helfen und doch auch immer wieder die Todesfälle nicht verhindern zu können und verkraften zu müssen.

4. 24 Wochen

von Anne Zohra Berrached, Deutschland 2016

Mit der ergreifendste Film war für mich der deutsche Wettbewerbsbeitrag «24 Wochen». Im übervollen (eh viel zu engen und stets zu heißen) Friedrichstadtpalast ist während der Vorstellung eine Frau mit Atembeschwerden zusammengebrochen. Es gab auch mehre Stellen im Film, bei denen man eine Vielzahl von Menschen im Saal schluchzen hörte, das Wegwischen der Tränen war spürbar im Raum. Gezeigt wird ein Ehepaar, das im 6. Monat der Schwangerschaft die Nachricht erhält, dass es ein Kind mit Downsyndrom erwartet. Und dann wird auch noch ein schwerer Herzfehler diagnostiziert. Das Ringen um die Entscheidung, ob sie abtreiben oder das Kind zur Welt bringen, wird überaus realistisch dargestellt: Bjarne Mädel (hier im Interview zu seiner Rolle), den man ja bis dato fast nur aus lustigen Rollen kennt (Tatortreiniger, Bernie bei Stromberg) als Vater und in der Rolle der Mutter die großartige Julia Jentsch, die für ihr Schauspiel sogar den Preis als beste Darstellerin der diesjährigen Berlinale verdient hätte.

5. National Bird

von Sonia Kennebeck, USA 2016

Diese beeindruckende Doku gibt – wie es in der Filmbeschreibung heißt – «Einblicke in das US-Drohnenprogramm, gesehen mit den Augen von Veteranen und Überlebenden». Im Film kommen drei Whistleblower zu Wort, die einst für die US Air Force im Bereich der Kriegsführung mit Drohnen, gearbeitet haben. Drei Jahre lang haben die Recherchen und Produktionsarbeiten von Sonia Kennebeck für “National Bird” gedauert – alles unter strenger Geheimhaltung und immer begleitet mit juristischer Beratung, damit der Film nicht schon in der Produktion gestoppt wird. Ein Aufwand, der sich gelohnt hat. Der Film geht einem aus mehreren Gründen sehr nah. Einerseits konfrontiert er einen mit den Opfern des Drohnenkrieges in Afghanistan. Und dann wird die Frage analysiert – Zitat aus dem ZAPP-Bericht zur Doku «Der Tod kommt von oben: “National Bird”» –: «Was macht es mit einem, in sicherer Entfernung in den USA vor einem Computer zu sitzen und Drohnenbilder aus Afghanistan zu analysieren, die dafür bestimmt sind, menschliche Ziele für Attacken ins Visier zu nehmen?».

Hier auch das Panel zum Film (38 Minuten) mit Regisseurin Sonia Kennebeck, der Produzentin Ines Hofman Kann und der Anwältin und Protagonistin Jesselyn Radack. Apropos Anwältin, Regisseurin Kennebeck: «Vom ersten Geld habe ich meinen Anwalt bezahlt»:

6. The Bacchus Lady

von E J-yong, Republik Korea 2016

«The Bacchus Lady» – oder, wie der Film aus Süd-Korea im Original heißt «Jug-yeo-ju-neun Yeo-ja» – gehört auch zu den Perlen der diesjährigen Berlinale. Es sind diese Zufallsfunde, von denen man es im Vorfeld nicht unbedingt erwarten kann. Es geht um ältere Frauen in Süd-Korea, die das Erfrischungsgetränk «Bacchus» verkaufen und im Nebenangebot auch Sexdienste anbieten, weshalb sie eigentlich von der zunehmend älter werdenden Kundschaft aufgesucht werden. Anhand des Schicksales so eine Bacchus-Lady entführt uns der Film in eine fremde Welt, die wir als Zuschauer besser verstehen lernen, je mehr wir uns darauf einlassen. Hervorragend gespielt, einfühlsam erzählt, ohne jemals voyeuristisch oder peinlich zu werden:

The Bacchus Lady – Excerpt on Vimeo.

7. Strike a Pose

von Reijer Zwaan, Ester Gould, Niederlande / Belgien 2016

Wenn ich gerade von Perlen und Zufallsfunden schreibe, kann ich das für «Strike a Pose» fortführen. Mich begeistern Filme immer dann, wenn ich mir im Vorfeld gar nicht so viel darunter vorgestellt habe. Was aus den 7 Tänzern der Blond Ambition Tour von Madonna (13. April – 5. August 1990) wurde, ist eigentlich kein Thema, das mich besonders interessiert. Aber die im Film porträtierten Personen, und das, was aus ihnen geworden ist, wie sie die Erfahrung des zeitweisen Ruhms an der Seite von Madonna verarbeitet haben, ist ein starkes Stück dokumentarischen Kinos. Ganz nah an den Menschen, ganz fern von einer spekulativen Promi-Berichterstattung. Madonna wurde von den klugen Regisseuren von Anfang an gar nicht erst ins Konzept einbezogen, obwohl sie diesen Film sicher selbst mit großem interesse anschauen wird:

Strike a Pose – Excerpt from Markus Trapp on Vimeo.

8. Tempestad

von Tatiana Huezo, Mexiko 2016

Einen Film gab es bei der diesjährigen Berlinale, der mich so sehr mitgenommen hatte, dass ich es beinahe nicht geschafft habe, von dort in den nächsten Film zu gehen. Bei sechs Filmen am Tag sind die Pausen naturgemäß knapp zwischen den Filmen, aber hier hat es mich sehr viel Überwindung gekostet, weil das Thema ein so hartes ist. Entführung und Zwangsprostitution in Mexiko. Tatiana Huezo, die zuvor die Doku «Ausencias» gemacht hat, hat für ihren zweiten Film eine ungewöhnlichen Genre-Mix vorgenommen, denn der Film dokumentiert einerseits das Schicksal von zwei Personen und liefert gleichzeitig eine Art Roadmovie (mit dem Zurücklegen von einer Strecke von 2.000 km im Bus von Matamoros im Nordosten bis Cancún im Südosten des riesigen Landes. Die Regisseurin sagt selbstbewusst im Berlinale-Night-Talk: «’Tempestad’ ist mehr ein Film als eine Dokumentation». Wie gesagt sehr hart, aber höchst sehenswert:

Tempestad – Excerpt on Vimeo.

9. Auf einmal

von Aslı Özge, Deutschland / Niederlande / Frankreich 2016

Der zweite deutsche Film, der mich auf der Berlinale beeindruckt hat war der im Panorama gezeigte «Auf einmal» von Asl? Özge. Nach einer Party kommt es zu einem Todesfall einer Frau, die niemand kannte. Der Gastgeber gerät in Verdacht. Wie das sein Leben verändert ist zentraler Inhalt des Films. Weniger das Whodunit eines Krimis. Obwohl der Film auch spannend inszeniert wurde. Und was «Auf einmal» so außergewöhnlich macht, ist seine psychologische Tiefe und die Wendung, die er nimmt. Kann man das nicht konkret erklären ohne zu spoilern. Deshalb halt ich die Klappe und sage nur: anschauen, wenn er ins Kino kommt:

AUF EINMAL (All of a Sudden) Trailer from Fabian Massah on Vimeo.

10. Las Plantas

von Roberto Doveris, Chile 2015

Zum Abschluss noch ein Latino-Porno. Ja, ihr habt richtig gelesen, ein Porno aus Lateinamerika. Variety nennt «Las Plantas» (dt.: Die Pflanzen) einen sexuellen Psychothriller. Man wundert sich, dass dieser Film frei ab 16 ist, bei der Eindeutigkeit der gezeigten Sexszenen. Andererseits ist der nächste Porno für alle Jugendlichen im Internet auch nur einen Klick entfernt, von daher… 😉
Im Mittelpunkt steht die 17-jährige Florencia (sehr stark gespielt von Violeta Castillo), die sich allein um ihren Bruder kümmert, der im Wachkoma liegt. Sie badet ihn, sie liest ihm vor. Wir sehen rührende und teilweise verstörende Szenen der menschlichen Nähe einer Schwester mit Sehnsüchten und der Hilflosigkeit eines Bruders im Wachkoma. Ihre Sexualität versucht Florencia auszuleben durch Kontakte, die sie über Sex-Chats im Internet anbahnt. Jungs, die ihr gefallen, lädt sie in die Wohnung ein, doch diese Besucher dürfen nur in den Zwischenraum der beiden Wohnungstüren eindringen, wo sie ihr – geschützt hinter einer verschlossenen Glastür – zeigen sollen, was sie körperlich zu bieten haben. Ein Reigen erigierter Schwänze wird Florencia – und dem Zuschauer in Nahaufnahmen – vor Augen geführt.

«Las Plantas» hat den großen Preis der Internationalen Jury von Generation 14plus gewonnen. In der Begründung der Jury heißt es:

Waches Wahrnehmen und Innehalten. Sehr direkt und gleichzeitig zart portraitiert der Film eine junge Frau in ihrer Verletzlichkeit, ihrem Herantasten an den eigenen sexuellen Ausdruck und ihre Einsamkeit. Die vielschichtige Inszenierung, in der surreale und authentische Alltagsmomente eine faszinierende Verbindung eingehen, hat uns nicht nur künstlerisch beeindruckt, sondern vor allem auf einer persönlichen Ebene getroffen und nachdenklich gestimmt.

Das war meine 21. Berlinale. Zusammenfassend kann ich sagen, 2016 war ein guter Jahrgang. Freue mich schon auf nächstes Jahr und drücke euch bis dahin die Daumen, dass ihr möglichst viele von den hier vorgestellten Filmen, so sie euch denn interessieren, zu sehen bekommt.

Berlinale 2016 – Kino International

3 Kommentare zu „Berlinale-Festivalbericht 2016“

  1. Vielen Dank mal wieder für Deinen Berlinale Festival-Bericht. Ob die Doku über die Drohnen wohl irgendwann auch im NDR gezeigt wird?

    Mich würde ja auch mal interessieren, ob sich nach all den Jahren Kino-Festivals, die Du auf dem Buckel hast, Kritierien für Dich herausgebildet haben, anhand derer Du entscheidest, welche Filme Du Dir auf der Berlinale (bzw. auch dem Festival in San Sebastian) anschaust?

    1. @Liisa: “National Bird” kommt sicher auch im NDR, oder sogar in der ARD.

      Danke für Dein Interesse an meinem Vorgehen bei der Filmauswahl: das ist schwer zu sagen, manchmal sind es auch Zufallstreffer. Ich habe z. B. eine Lücke im Filmprogramm und schaue dann: was kommt denn zwischen 16 und 18 Uhr? Läuft da ein Film, der zeitlich passt, schaue ich ihn, obwohl mich die Beschreibung im Katalog im Vorfeld vielleicht nicht unbedingt umgehauen hat. So habe ich schon viele tolle Filme gesehen, von denen ich es vorher gar nicht erwartet hätte. Dieses Jahr war “Strike a Pose” über die Madonna-Tänzer zum Beispiel so ein “Lückenfüller” im Programm, der mich im Nachhinein begeistert hat.

      Ich versuche darüber hinaus, möglichst alle spanischsprachigen Filme zu schauen und – wenn möglich – aus jeder Sektion eines Festivals (Retroperspektive, Länder- oder Themenreihen) mindestens einen Film. Und ich achte darauf, dass auch mal was Lustiges dabei ist, neben all den doch sehr ernsten und meist in der raschen Abfolge nur schwer zu verkraftenden Filmen.

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