Mut & Moral am Millerntor: Meine Serie hält auch bei St. Pauli – Rostock

Was für ein Spiel haben wir da gestern erlebt? Auf jeden Fall eines, das wir so schnell nicht vergessen werden. Gestern Abend hatte ich ja nach Heimkehr von diesem emotional sehr aufregenden Sporterlebnis schon kurz gebloggt und versprochen, heute noch mal was zu schreiben. Bitte:

Was war da gestern am Millerntor geschehen? Ein absolut unglaubliches Spiel mit zwei Halbzeiten, die unterschiedlicher nicht sein können. Rückstand der Boys in brown schon nach 5 Minuten, eine kopflose Mannschaft auf dem Platz, die in bester Auswärtstradition eine schwache Abwehr mit einem nicht-existierenden Angriff und einem ideenlosen Mittelfeld kombinierte. Rostock war Tür und (zweimal) Tor geöffnet und die am Abgrund stehende Mannschaft nahm dankbar an und lochte ein. Wie gesagt: nach nur 5 Minuten.

Da stand ich nun mit lieben Freunden in der Süd (u.a. Frau Jekylla, deren lesenswerter Bericht «Schiffeversenken…» das Spiel aus ihrer Sicht schildert) und fragte mich: «Wird das heute Deine erste Pauli-Niederlage, die Du live im Stadion erlebst?». Ich bin ein so grenzenloser Optimist, dass ich mir auch trotz dieses deprimierenden Auftaktes sagte: «Nix, wir packen das noch!». Im Kopf war der Plan gemacht: Minimal-Ziel muss ein Anschlusstreffer bis zur Pause sein, und dann sehen wir weiter in Halbzeit zwei. Doch ich konnte keine Anzeichen erkennen, dass auch nur irgendjemand auf’m Platz diesen tollen Plan gemeinsam mit mir umsetzen wollte. Unkoordiniertes Rumgekicke, Fehlpassfestivals und Angst-vor-dem-Ball-Schüsschen («nimm Du ihn, ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll») ließen mich nur solche Plattitüden raushauen wie «Besser die Tore am Anfang fangen als am Schluss» oder «Wir packen das noch! Alles wird gut».


Rostocker Bengalo-Rauch schwört Pauli-Mannschaft am Mittelkreis zusammen

Doch dann kam die 2. Halbzeit und alles wurde tatsächlich gut. Erstmal waren die Rostocker so bescheuert in der Halbzeit Bengalisches Feuer abzuknallen. Ich meine, wie wenig kann da in den Köpfen sein, wenn man den bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden 2:0-Vorsprung seiner Mannschaft durch einen Spielabbruch riskiert zu unterminieren? Als der Rauch abzog, konnte des Spiel, das nun ein anderes war, fortgesetzt werden. Stani hatte alles auf eine Karte gesetzt und drei Spieler ausgetauscht: Trojan, Schultz und Ludwig (vollkommen zurecht!) raus und dafür mit Brunnemann, Bruns und Hennings eine neue Kreativabteilung auf den Platz geschickt. Hammer-Entscheidung, hohes Risiko, klar, aber, was sollte Stani auch tun, er musste ja in der 1. Halbzeit genau wie wir Fans mit ansehen, dass da gar nix ging bei der Mannschaft. Und in der Pause war er offensichtlich nur ganz kurz bei der Mannschaft. Wir haben in der Süd fast einhellig darauf spekuliert, dass er sicher nur ganz kurz und heftig einen Kommentar in die Kabine gefeuert hat, der wohl mehr bewirkte als eine 12-minütige Standpauke.

Und es wirkte: Plötzlich wurde gefightet, die gingen in die Zweikämpfe, gewannen sie, eroberten sich verlorene Bälle wieder zurück und hatten ganz eindeutig Zug zum Tor. Brunnemann beeindruckend, holte dann genau mit dieser Einstellung auch den verdienten Elfer in der 52. Minute raus, den Sako souverän zum 1:2 verwandelte. Hat mich super gefreut für den schlaksigen, manchmal ungelenk wirkenden Riesen. Gerade Sako schien mir bis dahin der tragische Held, der so oft alleine Richtung Rostocker Bude marschierte und von seinen Mitspielern dabei hoffnungslos alleine gelassen wurde. Tja, und dann nahm das Spiel seinen Lauf, kurz ehe ich diesen Hoffnungstweet («Ausgleich nur Frage der Zeit!») absetzte, erlöste uns noch zweimal der kleine Hoilett (mit 18 einer der jüngsten!) mit seinem ersten Doppelpack in Liga zwo. Und wir lagen uns in den Armen in der Südkurve, die Freude ist ja gar nicht zu beschreiben. Wenn der ganze Druck, die ganze Anspannung und Enttäuschung, die man zuvor durchlebte, von einem abfällt. Vollkommen entfesselte Freudengesänge und Jubelschreie (Favorit aus allen Kehlen: Wie geil ist das denn???!!!) gegen Ende des Spiels, als wir voller Unglauben, ob das, wir da erleben, wirklich wahr ist, dem Schlusspfiff entgegenfieberten. Der Wasserpegel in den Augen hartgesottener Fußballfans stieg und Pauli hatte das unglaubliche wahr gemacht: Mit Mut & Moral untermauert, dass dieser Gesang nicht bloß eine Fan-Phrase ist: Niemand siegt am Millerntor! (und in aller Bescheidenheit möchte ich dem anfügen:) solange ich dabei bin. 😉

Pauli-Rostock auf Flickr

Meine Bilder vom Spiel im Album auf Flickr.

12 Kommentare zu „Mut & Moral am Millerntor: Meine Serie hält auch bei St. Pauli – Rostock“

  1. sparschäler

    Ich möchte nur kurz anmerken, dass ich wie immer völlig ruhig und gelassen das Spiel verfolgt habe, weil ich wusste, dass wir das gewinnen.

    Das ist die Souveränität des Alters.

  2. Aha, Herr Sparschäler: der Fels in der Brandung der Süd? Der ruhende Pol einer aufgeregten Fangemeinde? Ich widerspreche jetzt mal nicht, mit Rücksicht auf und aus Respekt vor Ihr(em) Alter. 😉

  3. Pingback: Kaperfahrt auf einem Freibeuter… eine Chronik « Moppelkotze::Blog

  4. @Elke: Ich glaube, über diesen Sieg werden wir uns lange freuen, womöglich lange über die aktuelle Saison hinaus, denn so etwas erlebt man schließlich nicht alle Tage.

    Und zum Foto: einige der Aufnahmen habe ich mit der Lomo-Software für’s iPhone gemacht, die ich neulich schon hier vorgestellt hatte: QuadCamera.

  5. Schade nur, dass es danach zu solchen Ausschreitungen kam! 🙁 Warum muss das denn immer wieder sein? Wenn ich dran denke, was es kostet solche Spiele durchzuführen und hinterher solche Ausschreitungen zu verhindern bzw. zu ersticken, während gleichzeitig Geld an Stellen fehlt, wo es sinnvoller verwendet werden könnte, packt mich manchmal schon die kalte Wut! Und nein, ich bin keine Fußball-Hasserin und ja, ich gönne allen friedlichen Fans ihren Spaß.

  6. @Liisa: Ja, dass ist wirklich unfassbar, dass es solche hirnverbrannten Pseudo-Fans auch zu den Spielen zieht. Die sind ja meistens weniger am Spiel sondern an den Randalen interessiert. Das Spiel Pauli-Rostock hatte zudem eine zusätzliche Brisanz, weil es ja beim Hinspiel schon zu schlimmen Übergriffen von Rostockern auf Pauli-Fans kam. Das hat nichts mehr mit Fußball zu tun. Und zum Glück sind wir persönlich von diesen Auseinandersetzungen verschont geblieben.

    Ich habe dieses Thema ganz bewusst hier nicht erwähnt, nicht um es zu verdrängen, sondern weil ich mich gestern und heute darüber geärgert habe, wie die Berichte (zum Beispiel auf SpOn) über Randale außerhalb des Millerntors die schönen Eindrücke vom Geschehen im Stadion überlagern. Das ändert aber nichts daran, dass das absolut zu verurteilen ist.

  7. @Björn: Danke. Ich hatte am Freitag vor dem Spiel so viel um die Ohren, dass ich vergessen hatte zu tippen. In allen drei Tippspielen, an denen ich teilnehme. Wie Du sicher gesehen hast auch bei dem, an dem wir gemeinsam teilnehmen und wo ich genau wie beim Kiezkicker-Tipp (2.-Liga-Tipp von Pauli) dadurch die Führung abgegeben habe.

  8. Pingback: Pauli-Augsburg: Auflaufkinder laufen vom Platz » Text & Blog

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert