Festivalbericht San Sebastián 2011

Teatro Principal: Festival-Kino in der Altstadt von Donostia
Foto in groß. Alle Fotos im Album San Sebastián 2011 auf Google+.

Hatte ich es im Vorjahr auf dem Filmfestival von San Sebastián noch auf 49 Filme gebracht, waren es dieses Jahr nur 48. Jeweils in 9 Tagen. Ich schwächelte also dieses Mal leicht, das Wetter war einfach zu gut! 😉 – Und ich habe doch wieder wahnsinnig viele Filme gesehen. 5-6 pro Tag, wie in den Vorjahren auch. 2 vormittags, 4 nachmittags, abends und nachts. Und wenn ich nicht die besten davon in einem Festivalbericht hier im Blog vorstelle, weiß ich nächstes Jahr schon nicht mehr, was ich an gutem Kino gesehen habe. Dieser Bericht ist natürlich für alle am Festival und an gutem Kino Interessierten, aber er ist auch eine Erinnerungsstütze für mich.

1. Intouchables

Ich fange gleich mal an mit einem der besten Filme aus dem Wettbewerb von San Sebastián: «Intouchables» (Kurzinfo & 2. Trailer auf kinozeit.de) von Eric Toledano und Olivier Nakache. Auf diesen Film darf man sich freuen (bei uns erst ab 5.1.2012 zu sehen). Ein Clash der Kulturen basierend auf einer wahren Geschichte. Dabei geht es um mehr als den mitleidlosen Umgang mit Behinderten. Wunderbar umgesetzt, großartig gespielt. Ein Filmausschnitt:

2. Tralas luces (Behind the Lights)

Aus Galizien wurde mit «Tralas luces» ein Dokumentarfilm gezeigt, der sowohl von der Kritik (z.B. Nuria Vidal in Fotogramas) als auch von den Zuschauern sehr positiv aufgenommen wurde. Regisseurin Sandra Sánchez hat 9 Monate lang eine junge Familie mit 4 Kindern begleitet, die ein Kirmes-Fahrgeschäft (Autoscooter) betreibt und den Norden Spaniens bereist, wo sie im Wohnwagen leben und – von Dorf zu Dorf fahrend – immer wieder ihren Autoscooter aufbauen. Anfangs nicht so geplant, wie uns die Regisseurin erzählte, ist aus der Langzeitbeobachtung der ganzen Familie immer mehr vor allem ein Porträt der jungen Mutter geworden. Ein unspektakuläres, stille Juwel kam dabei heraus – wie Fiktion wirkend und doch den Alltag unerschütterlich und nie langweilig dokumentierend. Dank kleinem Team (nur die Regisseuren, der Ton- und der Kameramann), immer sehr dicht dran an der Familie. Beängstigend nah dran, die Porträtierten haben die Kamera aber irgendwann nicht mehr wahr genommen, wodurch ein sehr authentischer Film entstehen konnte. Wer ihn gesehen hat, wird ihn so schnell nicht vergessen. Im Trailer wird die stille Melancholie des Filmes – stilsicher von Sánchez komponiert – schon spürbar:

3. Madrid, 1987

David Trueba hat in San Sebastián mit «Madrid, 1987» einen wunderbaren, kammerspielartigen Film gezeigt: José Sacristán spielt einen Journalisten, der am Wochenende mit einer Journalismus-Studentin (das alter Ego des jungen David Trueba, gespielt von der sehr guten Maria Valvaerde, bekannt aus “La flaqueza del bolchevique”) in einem Badezimmer eingeschlossen ist und neben dem erotischen Umwerben der hübschen Frau quasi eine Privatvorlesung in spanischer Literatur und iberischen Journalismus gibt. Einen spanischsprachigen Vorbericht zu den Dreharbeiten gibt es bei Fotogramas zu lesen, eine englischsprachige Kurzvorstellung bei Screendaily. Auch hier zur Anschauung der Trailer:

4. Las Acacias

Den Gewinner des Premios Horizontes Latinos (= bester lateinamerikanischer Film), das argentinische Roadmovie «Las Acacias» von Pablo Giorgelli hatte ich ja schon vorab hier im Blog (und im ciberaBlog) vorgestellt, da er auch in Hamburg auf dem Filmfest zu sehen ist (letztmalig am Mittwoch, den 5.10. um 21h im Passage Kino). Deshalb hier nur nochmal der Vollständigkeit halber die Auflistung samt Trailer:

5. Urte berri on, amona! (Happy New Year, Grandma!)

Dieser baskische Film «Urte berri on, amona!» schafft es mit Bravour ein eigentlich trauriges Thema als Komödie zu präsentieren, ohne den Respekt vor den Menschen vermissen zu lassen. Die (gar nicht so) liebe Amona – das heißt Oma auf baskisch –, ist an Alzheimer erkrankt, kann im Prinzip keine Sekunde alleine gelassen werden und terrorisiert – zum Teil recht durchtrieben – die ganze Familie. Die heimtückische Alte treibt alle Angehörigen soweit in die Verzweiflung, dass schließlich Teile von ihnen versuchen, Amona ins Jenseits zu befördern. Doch das ist gar nicht so einfach. Beim Verlassen des Kinos wurde ich vom baskischen Sender ETB zum Film befragt und meinte, es sei zwar nicht unbedingt eine politisch korrekte Botschaft, die unliebsamen Alten einfach um die Ecke zu bringen, aber es handele sich bei dem Film um eine gut gemacht schwarze Komödie. Der auf Baskisch gedrehte Film spielt in San Sebastián und Umgebung, sodass seine Premiere in Donostia quasi ein Heimspiel war. Seit 30. September in Spanien im Kino. Wird sicher – zumindest im Baskenland – ein Publikumserfolg. Einen Eindruck vermittelt auch der Trailer, selbst wenn man kein Baskisch kann und auch mit den spanischen Untertiteln wenig anfangen kann:

6. Arrugas (Wrinkles)

Zum gleichen Thema Alzheimer wurde in der Reihe Zabaltegi (= auf anderen Festivals bereits prämierte Filme) der Animationsfilm «Arrugas» des Spaniers Ignacio Ferreras gezeigt. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Comic von Paco Roca, der 2008 mit dem renommierten Premio Nacional del Cómic ausgezeichnet wurde und den ich hier im Blog schon mal vorgestellt hatte. Ich hatte damals versprochen, dass ich den Comic der Stabi zur Anschaffung vorschlagen werde, sowohl ich als auch die Bibliothek haben ihr Versprechen gehalten, der Comic Arrugas ist in Hamburg ausleihbar. Das großartige an dem Film ist die Umsetzung der Brüche zwischen Realität und Vorstellungswelt der Alten in einem Altersheim. Da gibt es etwa die rauchende junge Frau im Orient Express auf dem Weg nach Istanbul, die aus dem Fenster schaut und die Landschaft vorbeiziehen sieht, dann klopft es, wir sehen eine Art Zugkontrolleurin hereinkommen, doch plötzlich handelt es sich um eine Krankenschwester. Die Frau am Fenster sitzt nicht mehr im Zug sondern im Altersheim. Die Zigarette die sich raucht, imitiert sie nur, allerdings immer noch fest davon überzeugt, im Orientexpress zu sitzen. Ein sehr liebevoller Film. Unbedingt sehenswert.

Weitere Filme, die mir gut gefallen haben:

Ich müsste noch über viel mehr Filme schreiben, doch ich belasse es – um den Rahmen dieses Artikels nicht zu sprengen – bei den weiteren Nennungen mit Kurzbeschreibungen samt einer Verlinkung auf die Festivalseiten, wo die Filme ausführlich beschrieben sind. Gut gefallen haben mir auch:

  • «La maleta mexicana»: Doku über den nach 70 Jahren aufgetauchten Koffer mit verschollen geglaubten Foto von Robert Capa, Gerda Taro und David Seymours; sehenswert nicht nur wegen der Fotos und der aufregenden Geschichte um den Koffer, sondern auch wegen der Zeitzeugen zum Thema Auswanderung aus Spanien wegen des Bürgerkrieges.
  • «Carrière, 250 metros»: Wunderbare Doku des Mexikaners Juan Carlos Rulfo über Buñuels Drehbuchschreiber und Co-Autor dessen Memoiren, Jean-Claude Carrière. Ein faszinierender, auch ein bisschen selbst verliebter Mensch, der trotz seines mittlerweile hohen Alters (er ist gerade erst im September 80 geworden) immer noch ganz schön in der Weltgeschichte herum reist. Gut gemachter Film über einen, der was zu erzählen hat. Die 250 Meter stehen für die Entfernung zwischen Carrières Wohnhaus und dem Friedhof, auf dem er einmal begraben sein wird. Video eines Interviews mit Simón Bross, dem mexikanischen Mit-Produzenten des Filmes.
  • «Suture»: Ein Film-noir aus dem Jahr 1993 von Scott McGehee und David Siegel (siehe auch Wikipedia), der mir vollkommen unbekannt war und der für mich zu den Entdeckungen der Reihe «American way of Death» gehörte, wo ich auch ein Wiedersehen mit «Reservoir Dogs» auf der großen Leinwand feiern konnte. Man sieht also nicht nur neue Filme auf so einem Festival. Gerade San Sebastián ist für seine guten Retros bekannt. In diesem Jahr war die Haupt-Retro Jaques Demy gewidmet. Natürlich hab ich auch «Les Parapluies de Cherbourg» nochmal gesehen. Hier übrigens auch ein Trailer zu Suture.

Last but not least möchte ich den Festivalgewinner «Los pasos dobles» des jungen Spaniers Isaki Lacuesta erwähnen, weil er a) ein zwar – auch für mich – überraschender, doch nicht unverdienter, Sieger der Concha de Oro war und weil er b) auch einen zweiten wunderbaren Film (Doku) zum gleichen Thema im Festival hatte, und zwar über das Aufsehen erregende Schaffen des spanischen Malers Miquel Barceló in Afrika: El cuaderno de barro (The Clay Diaries). Den Trailer zu «Los pasos dobles» gibt es bei meiner baskischen Freundin Elvira Belandia, der ich zum Abschied vom Festival ein Blog eingerichtet habe.

7 Kommentare zu „Festivalbericht San Sebastián 2011“

  1. @Elke: Gern geschehen. Danke, dass Du ihn gelesen hast. Hoffe, der ein oder andere Film (über den Franzosen hinaus) wird auch bei uns zu sehen sein.

  2. Auch ich danke für diesen Bericht!

    Ich freue mich, hier einen Gleichgesinnten zu sehen – beim Filmfest Hamburg schaue ich an Tagen, an denen ich Zeit habe, ebenfalls bis zu sechs Filme.

    In der Kinoprovnz Hamburg hat man sonst zu selten die Chance, in annehmbaren Kinos Originalfassungen zu genießen …

    1. @pjebsen: Danke für den Kommentar. Es ist (für mich) schade, daß das Flmfest Hamburg immer direkt nach San Sebastián beginnt, zwei Festivals hintereinander sind dann doch zuviel für mich. 😉

  3. Du hast es tatsächlich geschafft!!!
    Vielen Dank für deine persönlichen UND informativen Festivaleindrücke. Ich bin gespannt, was ich davon zu sehen kriegen werde.
    Las Acacias läuft leider so spät, dass es für mich – trotz räumlicher Nähe – nicht drin ist:-(
    Planst du auch einen Besuch bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck (2. – 6. Nov)?

  4. @Carmen: Danke, dass Dir mein Bericht zusagt. Nee, Lübeck – obwohl das bestimmt toll ist – werde ich sicher nicht schaffen, denn gleich nach Rückkehr aus Mexiko fahre ich am letzten Oktober-WE nach Berlin wegen des Spieles des FC St. Pauli bei Union Berlin. Dann ist erst mal wieder Arbeit angesagt. 😉

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