Unbedingt reingehen: Young@Heart


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Ich habe heute Abend im Abaton einen ganz wunderbaren Film gesehen: Young@Heart. Ein Film über einen Chor in Massachusetts, was ja eigentlich kein sooo spannendes Thema wäre. Tja, wäre. Aber er ist es, und das liegt nur vordergründig an dem Durchschnittsalter dieses Chores, das nämlich bei 80 Jahren liegt. Aber das alleine ist es nicht.

Young@Heart Regisseur Stephen Walker hat im Oktober 2005, also genau vor drei Jahren, zum ersten Mal diesen Ausnahmechor gesehen, dessen Mitglieder zwischen 75 und 93 Jahren sind und die Lieder von The Clash, James Brown, den Ramones und Radiohead – um nur ein paar zu nennen – auf ihre ganz eigene Weise interpretieren. Stephen Walker schildert sein erstes Konzerterlebnis so (ich zitiere aus dem Presseheft zum Film:)

Eileen Hall, eine 93-jährige, in Großbritannien geborene Ex-Kriegsbraut, trat ans Mikrofon und sang die ersten Worte des Songs „Should I stay or should I go“ von The Clash. Das Publikum, hauptsächlich Leute zwischen 20 und 40, hielt vor Überraschung den Atem an, als Eileen den Song ungebremst vortrug, tatkräftig unterstützt vom Chor. Der Songtext gewann plötzlich eine komplett andere Bedeutung. Eileen sang nicht über Beziehungen, sondern über Leben und Tod. Was ich sah und hörte, schlug mich augenblicklich in den Bann. Und ich wusste, dass ich über den Chor einen Film drehen musste.

Es ist wirklich faszinierend zu sehen, wie diese Menschen in einem schon sehr fortgeschrittenen Lebensalter eine kreative Lebens(erhaltende)aufgabe gefunden haben. Wenn der stimmlich nicht unbedingt begnadete und gerne mal seinen Text vergessende Stan Goldman (75) im Duett mit der 83-jährigen Urgroßmutter Dora Morrow «I Feel Good » singt, dann wird uns nicht nur eine ganz eigenartige Interpretation dieses Klassikers von James Brown gezeigt, sondern als Zuschauer sitzt Du tief berührt im Kinosessel. Großartig auch die Darbietung des Chores von «Schizophrenia» von Sonic Youth. Das klappt bei den Proben erst gar nicht, also sowas von nicht, und dann nach sechs Wochen Probe leben sie diesen Song so auf der Bühne, als wäre er für sie geschrieben worden. Unglaublich. Kann mensch nicht beschreiben, muss mensch sehen.

Einer der bewegenden Momente des Dokumentarfilms zeigt den Auftritt Fred Knittles, der – selbst sehr schwer herzkrank – für seinen eine Woche vor dem Auftritt gestorbenen Chorkollegen und Freund Bob Salvin «Fix You» von Coldplay singt. Zuvor hat man ihn in der heimischen Wohnstube gesehen, und weil er – wie gesagt – selbst schwer krank, nicht an den gemeinsamen Chorproben teilnehmen kann, sitzt er vor seinem PC und übt seine Interpretation des Liedes durch Betrachten und Mitsingen dieses Coldplay-Videos von «Fix You»:


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Lights will guide you home
and ignite your bones
And I will try to fx you

Mensch muss schon ziemlich abgebrüht sein, wenn es einem – schon beim Betrachten der rührseligen Vorbereitung – im Kino nicht eiskalt den Rücken runter läuft. Ich kann Euch nur empfehlen, diesen Film anzusehen. In Hamburg besteht auch noch in der kommenden Kinowoche, also bis zum 22.10.08, die Möglichkeit dazu im Abaton. Für alle anderen: In Deutschland ist der Film am 2. Oktober angelaufen, die Chancen dürften aber gut stehen, dass der beim Publikum sehr beliebte Film auch (noch) in Eurer Nähe zu sehen ist.

Noch ein paar Links:

Ich habe die Kinokarte für den Film von dot-friends.com bekommen. Einen Einfluss auf diesen Artikel haben die selbstverständlich nicht genommen. Ich denke, das brauche ich nicht eigens zu betonen, und ich schreibe das nur, für den Fall das jemand diese Kurzrezension liest, der oder die mich nicht kennt. 😉

11 Kommentare zu „Unbedingt reingehen: Young@Heart“

  1. Ja, der Chorleiter Bob Cilman macht seit über 25 Jahren eine beeindruckende Arbeit mit diesem sich aus biologischen Gründen immer neu zusammensetzenden Chor. Sehr, sehr beeindruckend, was aus einem zunächst provisorischen Projekt in der Altenpflege auf die Dauer geworden ist.

  2. Absolut cool, ums mal mit den Worten der „Jungen“ auszudrücken!
    Ich hoffe, ich bin auch noch so vital und lebensfroh und fortschrittlich, wenn ich mal in dem Alter bin (… hm, so lang ist das gar nicht mehr… nur noch 30 Jahre, dann bin ich auch schon fast 80).
    Muss ich unbedingt sehen!

  3. @Susanne: das ist mit das Schöne an dem Film: er nimmt einem ein wenig die Angst vorm Alter (auch wenn – oder gerade weil – das Thema Tod und Krankheit keineswegs verschwiegen wird). Aber zu sehen, wie diese alten Menschen eine wichtige Aufgabe im letzten Lebensabschnitt gefunden haben und wie sie es genießen zusammen zu proben und aufzutreten, das ist schon beeindruckend und ermutigend. Für ganz junge, mitteljunge oder ältere Menschen. 😉

  4. In Berlin gab’s im August eine Preview mit Regisseur Walker, der – übrigens sehr eloquent – eine Menge zu den Dreharbeiten erzählte.

    Unter anderem darüber, warum der als schlichte TV-Doku geplante Film nun so einen Aufruhr und sogar Kino-Präsenz genießt. Alle Tabus bezüglich des Alters werden am Rock’n Roll festgemacht. Dass man die Protagonisten trotzdem bitte nicht als putzige Omis und Opis wahrnehmen sollte, sondern als hart arbeitende Künstler (dabei: „They’re all natural exhibitionists!“) — er äußerte auch die sarkastische Ansicht, dass erst der Tod zweier Mitglieder den Film so interessant macht. „But live is a mixture of joy, love and fun, and sometimes tragedy…“ — Übertragen hat er sicher recht, das Publikum wird mit fast allem konfrontiert, und Altwerden ist nunmal nicht nett. (Bob Cilman musste seit Chorgründung auf 17 Beerdigungen.)
    Respekt vor dem Fingerspitzengefühl der Filmemacher, so etwas gelingt vermutlich nur mit der nötigen Menge britischen Humors. Walker meinte auch, sie bekamen plötzlich 30 neue Großeltern — „we hat lots of tea and lots of cake!“ — andererseits, denke ich, nicht nur im Film auch im normalen Leben ist Altsein heute etwas anderes als noch eine Generation davor. Zum Glück.

  5. (Hab ich schonmal erwähnt, dass ich es furchtbar finde, eigene Kommentare nicht mehr editieren zu können, weil immer irgendwo blöde Rechtschreibfehler stehenbleiben?!) :-

  6. Frau Generator: erstmal zu den Rechtschreibfehlern: das geht mir auch so, wenn ich sonstwo kommentiere, ist aber nicht so schlimm. Bei gravierenden, den Sinn entstellenden Fehlern, schick ich der Hausherrin oder dem Hausherrn ne kurz E-Mail mit Bitte um Korrektur. Ich hatte auch schon mit technischen Lösungen zur Kommentareditierung (es gibt ja WP-Plugins dafür) gespielt, die mir aber alle zu aufwendig, verwirrend oder ressourcenfressend schienen.

    Zum Film: Dann haben Sie den ja schon im August gesehen und noch in Anwesenheit des Regisseurs: klasse. Danke für den Kurzbericht. Hatte irgendwo gelesen, dass der Chorleiter in den 25 Jahren sogar schon 70 (!) Beerdigungen hinter sich hat, was mir gar nicht mal so viel erschien, in Anbetracht der Größe des Chors und des hohen Durchschnittsalters. Wie dem auch sei, und – hab gerade mal Ihre Rezension gelesen – da sind wir uns ja einig: Young@Heart ist ein sehr sehenswerter Film.

  7. Nein, das mit den 70 Beerdigungen glaub ich nicht. Wird nach Hörfehler bei der Veranstaltung falsch kolportiert worden sein. Kann natürlich auch am eigenen Hörgerät liegen. Man wird ja nicht jünger!

  8. ;-))

    Der Vollständigkeit halber, hier noch die Quelle für die 70 Beerdigungen, das oben verlinkte Interview mit dem Regisseur:

    Stephen Walker: In 25 Jahren hat Bob Cilman 70 Begräbnissen beigewohnt, von den Gründungsmitgliedern lebt keines mehr. Die Lebenden trauern, lassen sich aber nicht hängen oder versinken in Depression. Tod gehört zum Altern, die Endlichkeit ist gewiss.

    Der Hörfehler zwischen seventeen und seventy kann natürlich auch beim BR passiert sein.

  9. Komme gerade aus dem Kino und bin immer noch hin und weg! Vielen Dank für diese tolle Empfehlung, Markus! Ohne deinen Tipp wäre mir dieses Juwel hundertprozentig durch die Lappen gegangen.

  10. @Elke. Oh ja, die Gefängnisszene, da musste ich auch sehr schlucken.
    Freut mich aber sehr, das Dir der Film gefallen hat. Wenn ich so etwas höre, weiß ich auch, dass es sich lohnt, hier regelmäßig ins Blog zu schreiben. Text & Blog, das kleine Service-Blog für unsinnigen Schabernack und doch auch für den ein oder anderen Kulturtipp. Danke für Deine Kommentare, die sind – wie ich immer sage – das Salz in der Suppe jedes Blogs.

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