Festivalbericht San Sebastián 2012

Festivalpalast Kursaal - gesehen durch ein Geländer

Nach den Fotos nun die Filme: Von den 49 Filmen, die ich in neun Tagen auf dem 60. Filmfestival in San Sebastián gesehen habe, gefielen mir diese am besten (die englischsprachige Filmbeschreibung des Festivals ist jeweils im Titel der Filme verlinkt):

Dans la maison • François Ozon

Ich fange gleich mit dem verdienten Gewinner des offiziellen Wettbewerbes an, der ab 29. November 2012 auch in den deutschen Kinos zu sehen sein wird: François Ozon wurde für «Dans la maison» (dt.: In ihrem Haus), vollkommen zurecht mit der Concha de Oro, der Goldenen Muschel, ausgezeichnet. Den Preis für das beste Drehbuch hat die Verfilmung der Erzählung «El chico de la última fila» (dt.: Der Junge aus der letzten Reihe; Textauszüge) von Juan Mayorga auch noch bekommen. In einer ersten Einschätzung hatte ich den Film auch schon auf Twitter gelobt:

Großartig, wie Ozon uns anhand des Verhältnisses Lehrer/Schüler und der ausgedachten, aufgeschriebenen Aufsätze des schreibtalentierten Eleven vorführt, dass wir Fiktion konsumieren, wenn wir ins Kino oder ins Theater gehen, oder wenn wir uns literarisch in andere, eben ausgedachte Welten begeben.

Quartet • Dustin Hoffman

http://youtu.be/-J7re-Uf0Wg

Dustin Hoffman hat den Wettbewerb außer Konkurrenz beendet und den Beweis geliefert, dass es nicht immer schief gehen muss, wenn Schauspieler sich auch mal als Regisseur versuchen wollen. Sein Film «Quartet» zeigt ein Seniorenheim für (mehr oder weniger bekannte) Opern-Musiker, die sich auf die jährliche Verdi-Geburtstagsaufführung vorbereiten und die einen prominenten Neuzugang (gespielt von der wieder einmal großartigen Maggie Smith) bekommen, deren divenhafte Präsenz wegen einer früheren persönlichen Beziehung – sie war verheiratet mit einem Heimbewohner – zu einigen Verwicklungen führt. Unterhaltsam, genial gespielt, sehr sehenswert. Danke, Dustin. Deutscher Filmstart: 24. Januar 2013.

INFANCIA CLANDESTINA • BENJAMÍN ÁVILA

Für mich einer der besten spanischsprachigen Filme, die ich dieses Jahr in San Sebastián gesehen habe. Wieder einmal argentinische Vergangenheitsbewältigung. Der Horror der Militärdiktatur, gesehen und verarbeitet aus der Perspektive des kindlichen Protagonisten. Ernesto, der gar nicht so heißt, und dem diese zweite, falsche Identität von seinen Eltern gegeben wird, um ihn und die Familie zu schützen, erfährt eines Tages erst durch den Gesang der Klassenkameraden, dass der 7. Oktober sein (im Pass gefälschter) Geburtstag ist. Doch da spielt er schnell mit. Dass die Kindheit im Verborgenen zum Überleben wichtig ist, hat er rasch gelernt. Anderes kann er – verständlicherweise – nur schwer verstehen. Wenn es besonders brutal wird, greift Regisseur Benjamín Ávila zu einem Stilmittel, dass wir schon aus «Waltz with Bashir» kennen: Erinnerungen an besonders grausames Geschehen, werden in animierten Sequenzen gezeigt. Da die Animationen in obigem Video nicht zu sehen sind, hier zur Veranschaulichung noch ein zweiter Trailer.

Wie man im Blog von San Telmo Productions lesen kann, hat der Film gute Chancen, als Argentinischer Film für den Oscar (bester nicht englischsprachiger Film) nominiert zu werden: «“Infancia Clandestina” may be Best Argentine Film of the Year». In Frankreich und der Schweiz, sowie weiteren Ländern Europas, startet das sehenswerte Erstlingswerk von Benjamín Ávila am 1. Mai 2013 in den Kinos. Deutschland ist leider noch nicht dabei. Hoffe, dass sich das noch ändert.

7 DÍAS EN LA HABANA • Benicio del Toro, Pablo Trapero, Elia Suleiman, Julio Medem, Gaspar Noé, Juan Carlos Tabío, Laurent Cantet

Dass ich beim Film zuvor schrieb „einer der besten spanischsprachigen Filme“ liegt eindeutig an dem wunderbaren Gemeinschaftswerk «7 días en La Habana», bei dem jeder Regisseur einen Tag in der kubanischen Hauptstadt inszeniert. Die von Julio Medem realisierte Episode «La tentación de Cecilia» mit Daniel Brühl ist dabei noch die schwächste. Großartig dagegen «La fuente» von Laurent Cantet: der hausinterne Mauerbau für eine Virgen, so kuba-typisch im nachbarschaftlichen Kollektiv mit aus der Not geborenen Mitteln organisiert, oder die Episode mit Emir Kusturica: «Jam Session» von Pablo Trapero. Der einzige Kubaner unter den sieben Regisseuren ist Juan Carlos Tabío und er hat mit «Dulce amargo» etwas umgesetzt hat, was er aus dem realen Leben kennt: Ärzte, die wegen des geringen Gehaltes zusätzlich noch als Zuckerbäcker arbeiten. Im Film ist es eine Psychologin, die zusätzlich zu ihrem gelernten Job noch süße Nachspeisen zum Broterwerb erstellt. Es spielen: Mirta Ibarra, bei der ich mal die Ehre hatte, sie in Saarbrücken im Kino live zu übersetzen, und Vladimir Cruz (beide auch bekannt aus Fresa y Chocolate).

Filmstart von «7 días en La Habana» in Deutschland: leider erst am 2. Mai 2013.

THE BAY • Barry Levinson

Die Nachricht vor einer Woche aus Australien, dass das Great Barrier Reef die Hälfte seiner Korallen verloren hat, rief mir sofort den gerade erst in San Sebastián gesehenen Umwelt-Horrorfilm «The bay» in den Sinn:

http://youtu.be/JRtgoJ_pFnQ

Ich könnte jetzt behaupten, ich weiß schon, warum ich keinen Fisch esse (versteht man nur, wenn man den Film gesehen hat). Aber so eine spaßige Bemerkung wird dem Horror dieses Films, der schrecklicher ist, als er in der Beschreibung scheinen mag, nicht gerecht. Ich stimme der Rezension auf Indiewire vollkommen zu: «Eco-Horror – Scarier Than It Looks». Der Schrecken liegt – anders als bei fiktivem Zombie-Trash – darin, dass es ja wirklich mal so kommen könnte, dass die Natur sich am Menschen auf solch schreckliche Weise rächte für die Verbrechen, die wir an der Umwelt begehen. Wer Schätzings «Der Schwarm» gelesen hat, in dem die Menschheit durch eine unbekannte, intelligente maritime Lebensform bedroht wird, kann auf der Shocking-Skala noch ein paar Punkte drauf legen, wenn er wissen möchte, was ihn bei «The Bay» erwartet. Wann ihr euch im deutschen Kino davon überzeugen könnt, ob euch das in diesem semi-dokumentarisch wirkenden Film Gezeigte schocken wird, steht noch nicht fest.

THE SESSIONS • Ben Lewin

Filme, die Publikumspreise gewinnen, sind meist sehr sehenswert, weil das Publikum im Allgemeinen selten irrt. Das gilt auch und gerade für das Publikum von Sundance und San Sebastián, wo «The Sessions» jeweils die Publikumspreise abgestaubt hat. Ein wunderbarer Film mit einem äußerst ungewöhnlichen Plot, der auf einer wahren Geschichte basiert. Verfilmt wurden nämlich die autobiographischen Notizen des Journalisten und Dichters Mark O’Brien, der mit 38 beschloss, seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Als Folge einer Kinderlähmung steckt er in einer „Eisernen Lunge“ und kann sich höchstens 3 Stunden außerhalb dieser aufhalten. Eine Sexual-Therapeutin soll Abhilfe schaffen. Der schmale Grat zwischen rührseligem und ins klamottige abrutschendem Film wird perfekt gemeistert. Es ist der trockene Humor und der entgegen aller Widrigkeiten durchaus vorhandene Charme des Protagonisten, der diesen Film zu einem Erlebnis werden lässt, das den Zuschauer in seinen Bann zieht. Ab 3.1.2013 auch auf deutschen Leinwänden zu sehen.

Weitere Empfehlungen aus dem Festival:

Da der Bericht wieder einmal sehr lang zu werden droht, hier noch weitere empfehlenswerte Filme, bei denen ich nur noch die Beschreibung aus dem Festivalkatalog von San Sebastián verlinke und einen Trailer zeige. Nach obigen „6 aus 49“ nun quasi noch acht, nicht minder interessante, „Zusatzfilme“:

EL LIMPIADOR (THE CLEANER) • ADRIÁN SABA:

7 CAJAS (7 BOXES) • JUAN CARLOS MANEGLIA, TANA SCHÉMBORI:

ANIMALS • MARÇAL FORÈS:

DESPUÉS DE LUCÍA (AFTER LUCIA) • MICHEL FRANCO:

EL ÚLTIMO ELVIS (THE LAST ELVIS) • ARMANDO BO:

NO • Pablo Larraín:

Io e te (Me and You) • Bernardo Bertolucci:

http://youtu.be/UB-OW6uVZWY

THE ANGELS‘ SHARE • Ken Loach:

Was ich – neben der Tatsache, dass die diesjährige Ausgabe des Festivals von San Sebastián eine der qualitativ hochwertigsten der letzten Jahre war – noch lobend anmerken möchte: Für die akkreditierten Fachbesucher des Festivals wurde erstmalig ein ganz besonderer Service eingerichtet: ein Großteil des Filmprogrammes kann noch bis zum 29. Oktober – also bis einen Monat nach Ende des Festivals – auf dem Portal Cinando nach Eingabe einer persönlichen Benutzerkennung nachgeschaut werden. Obwohl ich ja mit 49 Filmen schon so viel geschaut habe, wie es rein technisch unter vernünftigen Bedingungen möglich ist, gibt es noch etliche Filme, die ich nun noch online sehen kann:

Cinando

Auch dafür vielen Dank an das – für mich – schönste Filmfestival Europas. Meine 18. Festivalteilnahme wird nicht die letzte gewesen sein.

6 Kommentare zu „Festivalbericht San Sebastián 2012“

  1. Na, das hat sich doch gelohnt. Blog-Artikel und Festivalbesuch. 😉

    Deine Einschätzung von François Ozon teile ich und freue mich schon auf den Film. Ansonsten schient ein solches Festival einer Flut von Bildern gleich zukommen.

    Wünsche dir jedenfalls weiterhin die Teilnahmemöglichkeit an diesem Festival – auch während des Studiums!

    1. @Tobias: „Flut von Bildern“ trifft es ganz gut. Brauche auch immer einige Tage, um die Bilder wieder auseinander zu dividieren, um mir einen Überblick über das Gesehene zu verschaffen.
      Das Studium, das ich diesen Monat beginne, steht dem Festival zum Glück nicht im Wege, im September sind immer Semesterferien. 😉

  2. So langsam aber sicher, sollten Dir die Spanier mal ihren Verdienstorden (oder was sie an Äquivalent haben) verleihen! Immerhin stellst Du seit Jahren hier die besten Filme aus der spanischsprachigen Welt vor und machst uns das Filmfestival von San Sebastián schmackhaft! Vielen Dank (wieder mal!) für Deinen diesjährigen Bericht und die Filmtipps. Ohne Dich hätte ich in den vergangenen Jahren so manche spanischsprachige Kino-Perle mit Sicherheit verpasst!

  3. @Liisa: Vielen Dank, dein Lob bedeutet mir mehr als die spanische Verdienstmedaille. Meine Freunde im Baskenland haben auch schon gemeint, das Festival müsste mir spätestens beim 20. Festivalbesuch in 2 Jahren eine Medaille verleihen. 😉

  4. @Markus: Ich hoffe deine Semesterferien sind auch wirkliche Ferien. Ich hatte bisher immer gut mit Hausarbeiten zu tun zu diesen. Vor einer Woche habe ich z. B. meine 180-seitige Hausarbeit abgegeben, heute hat das Semester wieder begonnen. Insofern drücke ich dir fest die Daumen.

  5. @Tobias: Auch ich werde in den Semesterferien was machen müssen, es handelt sich ja um ein berufsbegleitendes Studium mit nur wenigen – genau genommen 2 – Präsenztagen im Monat. Aber für mich ist wichtig, dass ich nicht in den 10 Tagen des Festivals in Berlin sein muss. Alles andere bekomme ich organisiert. 😉

Schreibe einen Kommentar zu Liisa Kommentieren abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert