Festivalbericht San Sebastián 2023

Festivalzentrum Kursaal bei Nacht

In neun Tagen habe ich bei meinem 28. Festivalaufenthalt in San Sebastián 45 Filme gesehen. Ein harter Filmmarathon mit fünf Filmen am Tag, einige davon mit Überlänge, um die drei Stunden. Der Einsatz hat sich aber wieder einmal gelohnt. Man sieht auf so einem großen Festival Filme aus der ganzen Welt in Originalsprache, die es meist gar nicht in die hiesigen Kinos – und auch nicht in die Streaming oder TV-Angebote – schaffen.

Traditionell stelle ich in meinem Festivalbericht die zehn besten Filme daraus vor, die Reihenfolge stellt keine Wertung dar. Die Filmtitel verlinken auf die englischsprachige Filmbeschreibung auf der Festivalwebsite. Los geht’s:

1. NO ME LLAME TERNERA

von Jordi Évole und Màrius Sánchez, Spanien 2023

Über den Dokumentarfilm, in dem der in Spanien sehr bekannte TV-Journalist Jordi Évole den früheren ETA-Anführer Josu Urrutikoetxea interviewt, ist schon im Vorfeld ein heftiger Streit ausgebrochen. Es wurde von Vielen – obwohl sie den Film noch gar nicht gesehen hatten – gefordert, ihn nicht auf dem Festival zu zeigen, wegen des Vorwurfs der Weißwaschung (siehe taz-Artikel). Ich bin froh, dass das Festival dieser Forderung nicht nachgekommen ist. Von Weißwaschung kann keine Rede sein. Es handelt sich um ein sehr konfrontativ geführtes Interview mit dem ETA-Mitglied, der nicht Ternera genannt werden will (daher der Titel „Nennen Sie mich nicht Ternera“). In der Dokumentation kommt auch ein Opfer eines der von Josu Ternera organisierten Attentate zu Wort, der baskische Polizist Francisco Ruiz, der berichtet, dass er in seiner Stadt angefeindet wurde, weil er das Attentat überlebt hatte und deshalb das Baskenland verlassen mußte.

Marta Medina bringt es auf den Punkt, wenn sie in der spanischen Zeitung „El Confidencial“ schreibt: „dar voz no significa dar la razón“ (zu deutsch: „jemand eine Stimme zu geben, heißt nicht, ihm Recht zu geben“).

Die Doku wird auch auf Netflix zu sehen sein, deutscher Titel: „Im Angesicht der ETA: Interview mit einem Terroristen“ (Startdatum noch nicht bekannt).

2. ANATOMIE D’UNE CHUTE

von Justine Triet, Frankreich 2023

„Anatomie eines Falls“ wurde in Cannes mit der Goldenen Palme als bester Film ausgezeichnet und war in San Sebastián in der Reihe Perlak (Perlen anderer Festivals) zu sehen. Sandra Hüller spielt darin eine Frau, die im Verdacht steht, ihren Mann umgebracht zu haben. Einziger Zeuge bei der Gerichtsverhandlung, die im Mittelpunkt des Filmes steht, ist ihr 12-jähriger blinder Sohn. Sandra Hüller spielt darin oscarreif. Eindrücklich zu erfahren in einem ebenso dramatischen wie für die Zuschauenden nachempfindbaren Wutausbruch in einem in der Rückschau gezeigten Streit mit ihrem Mann.

3. LA ESTRELLA AZUL

von Javier Macipe, Spanien 2023

Diese Dokumentation basiert auf dem Leben des Musikers Mauricio Aznar (1964-2000) aus Zaragoza, dessen Mutter aus Deutschland stammt und der im Jahr 2000 im Alter von 36 Jahren viel zu jung verstarb. In seinem fiktiven Biopic zeigt Macipe die Reise Mauricios nach Argentinien und dessen Begegnung mit einem argentinischen Musiker. Eine auf- und zufällige Parallele zu der als 10. Filmtipp weiter unten vorgestellten Doku „Semilla del son“.

4. BLONDI

von Dolores Fonzi, Argentinien 2023

Die argentinische Schauspielerin Dolores Fonzi, die übrigens zwei Kinder mit dem mexikanischen Schauspieler Gael García Bernal hat, mit dem sie von 2006 bis 2014 zusammen war, führt hier Regie und spielt die Hauptrolle. Blondi ist mit 15 Mutter geworden, ihr Sohn Mirko und sie wirken eher wie ein Paar als Mutter und Sohn. Wir begleiten das Paar im Film auf einem Road Trip zu einer Hippiecommunity in den Süden Argentiniens. Schöner kleiner Streifen mit stimmigen Dialogen und mit 88 Minuten mit einer angenehmen Länge (gegenüber einigen Festivalfilmen mit einer Länge von bis zu 180 Minuten, wo man sich meist kürzere Versionen wünschen würde).

5. MIENTRAS SEAS TÚ

von Claudia Pinto Emperador, Spanien 2023

Bewegende Dokumentation über die katalanische Schauspielerin Carme Elias, die an Alzheimer erkrankt ist und die sich entschieden hat, der venezolanischen Regisseurin Claudia Pinto Emperador das schwierige Projekt anzuvertrauen, einen Film über die Phase des fortschreitenden Gedächtnisverlustes in ihrem Leben zu drehen. Das Vertrauensverhältnis zwischen Regisseurin und Schauspielerin beruht auf einer gemeinsamen Filmarbeit: La distancia más larga (2014), bei der Carmen Elías eine Frau spielt, die weiß, dass sie bald stirbt.

6. O CORNO

von Jaione Camborda, Spanien 2023

Mit ihrem ersten Film ist der 40-jährigen Regisseurin Jaione Camborda eine große Überraschung gelungen, die gleichsam auch eine Bürde für ihre noch junge Karriere ist: „O Corno“ („Das Horn“) wurde als bester Film des Wettbewerbes in San Sebastián mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet. Der Film spielt 1971 in Galizien an der Grenze zu Portugal. Im Mittelpunkt steht Maria, eine Frau, die illegale Abtreibungen vornimmt, die selbst als junge Frau (ohne fremde Hilfe) abgetrieben hat und die nun wieder schwanger wird und gleichzeitig fliehen muss. Ein beeindruckender Film über Solidarität unter Frauen und das Recht am eigenen Körper. Und somit über trotz 50 Jahre zurückliegender Handlung ein – nicht nur in Spanien – sehr aktueller Film.

7. UNZUÉ. L’ÚLTIM EQUIP DEL JUANCAR

von Jesús Muñoz, Xavi Torres und Santi Padró, Spanien 2023

ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) ist eine unheilbare, schwere Erkrankung des Nervensystems. Die Doku handelt von dem ehemaligen Torwart und Trainer (u.a. FC Barcelona) Juancar Unzué (* 1967), der an ALS erkrankt ist. Die Doku begleitet ihn seit der Zeit der Diagnose in 2020 bis zur Orga eines ALS-Benefizspiels zwischen dem FC Barcelona und Manchester United. Beeindruckend der Mut, die Kraft und – ja! – der Humor Unzués, die Krankheit in dieser sehr persönlichen Doku offen zu machen und die verschiedenen Etappen der fortschreitenden Einschränkung des täglichen Lebens offen zu machen. Unzué hatte vor, zur Premiere seines Filmes in Sam Sebastián zu kommen, was ihm letztendlich wegen einer Corona-Erkrankung nicht möglich war.

8. CERRAR LOS OJOS

von Víctor Erice, Spanien 2023

Altmeister Víctor Erice, mittlerweile 83 Jahre alt, hat in San Sebastián seinen vierten (und letzten?) Film vorgestellt. In dem fiktiven Film geht es um das Verschwinden des ehemals berühmten spanischen Schauspielers Julio Arenas mitten während der Dreharbeiten eines Films. Stark in der Hauptrolle des Filmregisseurs, der sich auf die Suche nach dem verschwundenen Schauspieler macht: Manolo Solo.

Bemerkenswert natürlich auch die Rückkehr zu einer Zusammenarbeit von Erice mit der Schauspielerin Ana Torrent, die bereits als 5-jährige in dessen berühmten Film „El Espiritú de la Colmena“ mitspielte und nun 50 Jahre später erneut vor der Kamera eines Films von Erice stand. Was diese Rückkehr für sie bedeutete, schildert sie in dem lesenswerten Interview „Ana Torrent On Reuniting With Víctor Erice“, das anlässlich der Vorführung von „Cerrar los ojos“ in Cannes geführt wurde.

9. PEDÁGIO

von Carolina Markowicz, Brasilien 2023

Auf jedem Festival gibt es diese kleinen, schrägen Filme, von denen man befürchten muss, dass sie es nicht in unsere Kinos schaffen, obwohl sie sehenswert sind. Die brasilianisch-portugiesische Co-Produktion „Pedágio“ (zu deutsch: Maut) ist so einer. Suellen arbeitet an einer Mautstelle, als allein erziehende Mutter versucht sie sich und ihren jugendlichen Sohn Tiquinho über die Runden zu bringen. Alarmiert von den Drag-Videos, die ihr Sohn ins Netz stellt, drängt die konservative Mutter Tiquinho an einem Gay-Conversion-Seminar eines Priesters teilzunehmen. Um diese teure – und wie eindrücklich gezeigt wird, absurde – Umerziehungsmaßnahme zu bezahlen, wird die Mutter entgegen ihren konservativen Prinzipien sogar kriminell. Mit fatalen Folgen für alle Beteiligten.

10. SEMILLA DEL SON

von JuanMa Betancort, Spanien 2023

Santiago Auserón oder Juan Perro, wie er sich selbst nennt, von der ehemaligen Rockgruppe Radio Futura, war bereits in den 80ern nach Cuba gereist, um die dortige Musik zu entdecken. Nun ist er ihm Rahmen dieser Produktion nach Cuba zurückgekehrt und trifft – vor allem im Osten des Landes – Vertreter der kubanischen Musik. Dies ist die bereits angesprochene parallele zu „La Estrella Azul“: Spanier reist nach Lateinamerika und macht zusammen mit dortigen Musikern Musik. Auch wenn er – wie bei der Premiere seines Filmes im Kino in Donostia- etwas selbstverliebt rüber kommt – und als Philosoph leider auch ein wenig zu akademisch auf die kubanischen Meister des Son de Cuba einredet, schafft er es doch, uns auf die Reise zu den Spuren der kubanischen Musik mitzunehmen und aufzuzeigen, worin deren Bedeutung und Auswirkung auf die Musik in Spanien und der ganzen Welt liegt. Die Stimme als Erzähler (und auch live vor Ort) ist beeindruckend (tief und verlebt) und hat mir besser gefallen als seine Gesangesstimme. 😉

Epilog

Anzumerken bleibt noch, dass der spanische Film „La sociedad de la nieve“ von J.A. Bayona – der übrigens auch von Spanien ins Oscar-Rennen geschickt wird – den Publikumspreis in San Sebastián gewonnen hat. Ich habe ihn in Donostia nicht sehen können, weil ich mich zwischen ihm und einem anderen Film entscheiden mußte. Da der Film ab 4. Januar 2024 auf Netflix zu sehen sein wird, können wir ihn dort schauen, oder wenn er bei uns in die Kinos kommt.

7 Kommentare zu „Festivalbericht San Sebastián 2023“

  1. Danke für Bericht und Filmempfehlungen.

    Es ist immer schade, wenn es so viele gute Filme nicht hierher schaffen, aber durch Streamer gibt es glücklicherweise etwas mehr Auswahl.

    Wenn auch deren Geschätsmodell… Aber das ist ein anderes Thema, siehe WGA-/SAG AFTRA-Streik.

  2. Muchísimas gracias! Großartig, dass du den Festivalbericht so schnell fertiggestellt hast. Immer große (Vor)freude in Lübeck!!!
    Freue mich auch über den (ungewöhnlichen) Epilog, vielleicht schafft der Publikumsliebling es dann ja auch in das ein oder andere Programmkino hier
    Das gilt natürlich auch für den Preisträger der CONCHA DE ORO!
    #2: sehr schön, das “spanisierte” Sandra Huller 😉 Der läuft bestimmt in D. und passt übrigens zum Schwerpunkt im Metropolis im Oktober (war noch nie da, hab aber letzte Woche ein Programm mitgenommen und bin schwer beeindruckt)
    #1 erinnert mich ein bisschen an MAIXABEL…
    #8 da fühle ich mich sofort an die Uni zurückversetzt und höre die Stimme von HJN… Sehr interessant, dass Erice mit reifen 82 Jahren “nur” 4 Filme gedreht hat und wie schön, die Zusammenarbeit mit Ana Torrent. Würde ich gerne sehen
    #5 bringt bei mir etwas zum Klingen. So einen ähnlichen Film wollte ich – glaub ich – bei der Berlinale sehen, kann mich aber nicht mehr an den Titel erinnern. Leider keine Karten gekriegt. Sehr spannendes Thema (Familiengeschichte), würde ich auch gerne sehen. Und irgendwie besteht auch eine Verbindung zu #7. Finde ich sehr berührend und mutig, diesen Weg der öffentlichen Begleitung einer solch dramatischen ERkrankung zu gehen (hab ich auch einen persönlichen Bezug)

    Vielen Dank nochmals und Respekt für 45 Filme an 9 Tagen – wie ich gesehen habe, ist die Kulinarik und auch der blaue Himmel und das Meeresrauschen nicht ganz zu kurz gekommen:-)

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