Festivalbericht Berlinale 2020

Mit etwas Verspätung mein Festivalbericht von der Berlinale 2020, der ersten unter der neuen Leitung von Carlo Chatrian als künstlerischem Direktor und Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin. Es war wieder einmal ein gutes Festival. Ich habe 45 Filme in zehn Tagen gesehen. Wenn man so viele (meist sehr harte) Filme in kurzer Zeit und rascher Abfolge sieht, brächte man während des Festivals eigentlich therapeutische Betreuung. Die Themen der Filme gehen einem meistens sehr nah und von einem Drama zur nächsten Dokumentation mit schwer zu verkraftenden Themen zu ziehen, ist kein Spaß. Aber es lohnt sich für mich immer wieder, weil ich auf diese Weise viele gute Filme entdecken kann, die ich sonst nie zu sehen bekäme.

Dies sind die zehn Filme, die mich am meisten beeindruckt haben. Die Reihenfolge stellt keine Wertung dar, die Filmtitel verlinken wie immer auf die Filmbeschreibung im Berlinale-Katalog:

1. Otac (Father) (Serbien 2020)

von Srdan Golubović

Der mit dem Panorama-Publikumspreis ausgezeichnete Film zeigt die Geschichte des Gelegenheitsarbeites Nikola (Goran Bogdan), dessen Frau im Beisein der beiden Kinder einen öffentlichen Selbstmordversuch aus sozialer Not begeht. Daraufhin wird der Vater das Sorgerecht für die beiden Kinder aberkannt. Er kämpft gegen die Behörden, um das Sorgerecht zurückzubekommen. Das karg inszenierte Drama geht ans Herz ohne in den Sozial-Kitsch abzudriften.

2. First Cow (USA 2019)

von Kelly Reichardt

Ein wunderbarer Film über die aus der Not geborene Freundschaft zweier Männer, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Die titelgebende “erste Kuh” dient den ungleichen Freunden als wirtschaftliche Überlebensgrundlage in einer abgelegenen Gegend im Oregon des frühen 19. Jahrhunderts. Regisseurin Kelly Reichardt hat das Drehbuch dieses ungewöhnlichen Westerns mit Jonathan Raymond, dem Autor der Romanvorlage “The Half Life“, geschrieben.

3. Undine (Deutschland 2020)

von Christian Petzold

Christian Petzold, einer meiner deutschen Lieblingsregisseure, hat sich des Mythos der Undine angenommen udn ihn in das Berlin der Neuzeit verlegt. Paula Baer erhielt für ihre Interpretation den Silbernen Bären als beste weibliche Darstellerin. Sie spielt die moderne Undine, die aufhören möchte ihre Männer zu “ermorden”. Nachdem die Historikerin Undine den Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) kennenlernt, entwickelt sich nicht nur eine ungewöhnliche Liebesbeziehung zwischen den beiden, sondern Petzold bringt die beste Sexszene der diesjährigen Berlinale auf die Leinwand, wie Wenke Husmann in ihrer Rezension in DIE ZEIT schreibt.

4. Bloody Nose, Empty pockets (USA 2020)

von Bill Ross und Turner Ross

Eine Dokumentation über die Gäste der vor der Schließung stehenden Kneipe Roaring 20s in Las Vegas, die einen so nah an die Charaktere führt, als säße man jeden Abend mit am Tresen. Kneipe als Familienersatz für sozial Margnalisierte. Große Klappe, großes Herz, unter Alkohol den Absurz dieser Menschen dokumentierend, die ohen vorgeführt zu werden als Menschen voller Sehnsucht gezeigt werden. Eine kleien Perle des Festivals, von der ich hoffe, dass sie ihren Weg in die Kinos oder wenisgestens die Streamingportale findet.

5. Favolacce (Bad Tales) (Italien 2020)

von Fabio und Damiano D’Innocenzo

Für mich der härteste Filme der Berlinale. Gleichzeitig einer der besten. Kindersuizid ist ein furchtbares Sujet. Doch wie die Brüder D’Innocenzo die traurige Geschichte inszenieren, ausgehend von der Rahmenerzählung eines gefundene Tagesbuchs eines kleines Mädchen, das plätzlich abbricht, ist großes Kino. Die Hölle eines italienischen Vorortes wird in gut komponierten Bildern darstellt, die lange im Gedächtnis bleiben. Zurecht mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet für das beste Drehbuch (auch von den Brüdern D’Innocenzo geschrieben).

6. Never rarely sometimes always (USA 2020)

von Eliza Hittman

Die Geschichte von zwei 17-jährigen jungen Frauen aus Pennsylvania auf dem Weg nach New York. Autumn ist ungewollt schwanger, ihre Cousine Skylar begleitet sie. Der Titel stammt aus den Antwortmöglichkeiten einer Befragung des sozialen Dienstes im Vorfeld der Abtreibung. Der Guardian schreibt dazu: “It’s hard to watch this movie outside its context, as states across America cracked down on access to abortion services.”

7. Berlin Alexanderplatz (Deutschland 2020)

von Burhan Qurbani

sehr gelungene Neu-Adaptation des gleichnamigen Romans von Alfred Döblin. Franz Biberkopf heißt hier Francis, ist aus Westafrika nach Deutschland geflohen und will ein guter Mensch sein, will anständig bleiben. Im Überlebenskampf als Asylant im heutigen Berlin kein leichtes Unterfangen. Atmosphärisch dichte, gelungene Modernisierung der fast 100 Jahre alten literarischen Vorlage.

8. Schlingensief – in das Schweigen hinein schreien (Deutschland 2020)

von Bettina Böhler

Schlingensief wäre dieses Jahr 60 geworden. Er war mit 49 viel zu früh gestorben. Bettina Böhler, die in den 90ern mit Schlingensief zusammen gearbeitet hatte (Schnitt bei “Terror 2000 – Intensivstation Deutschland” und “Die 120 Tage von Bottrop” lässt Schlingensief mit dieser Doku wieder lebendig werden. Formal sehr interessant, weil Böhler nicht den Weg vieler Bio-Pics gewählt hat, in denen Menschen, die den zu Porträtierenden kannten, auf Stühlen sitzen und etwas über ihn erzählen, sondern diese brilliante Doku besteht quasi nur aus Archivmaterial. Zu entdecken dabei u.a. auch der sehr junge Helge Schneider (in Werner Nekes-Filmen). Sehenswerte Doku!

9. Sheytan vojud nadarad (There is No Evil) (Iran 2020)

von Mohammad Rasoulof

Es war leicht, diesen Film als Favorit vorauszusagen:

Die Berlinale prämiert gerne politisch relevantes Kino, daran hat auch die neue Leitung – zum Glück ! – nichts geändert. Regisseur Mohammad Rasoulof durfte nicht nach Berlin kommen, sein Stuhl blieb bei der Premiere im Berlinale Palast, der ich bei wohnen durfte, leer. Die vier Episoden des Films drehen sich um die Todesstrafe und um die Frage, wie Menschen integer bleiben und überleben können unter einem Regime, das die Freiheit unterdrückt. Die Liebe des Regisseurs zu den Figuren in allen Episoden ist immer zu spüren.

10. Welcome to Chechnya (USA 2020)

von David France

(In Ermangelung eines Trailers zum Einbinden in diesen Bericht hier ein Interview mit dem Regisseur David France. Einen Trailer gibt es bei critic.de zu sehen)

Homosexuelle werden in Tschetschenien verfolgt, geschlagen, eingesperrt und sogar ermordet. Die Doku von David France stellt anhand der Schicksale einzelner Betroffener die segensreiche Arbeit einer Gruppe russischer LGBT-Aktivisten vor, die versuchen, Lesben und Schwule zur Flucht aus Tschetschenien zu verhelfen, um ihnen die Ausreise aus Russland zu ermöglichen. Sowohl ein Teil der Aktivisten, als auch einer der Menschen, dem zur Flucht verholfen wurde, sowie dessen betagte Mutter, waren beim Screening auf der Berlinale dabei. Sie haben bewegende Geschichten erzählt, das gleiche macht die sehenswerte Doku. Website zum Film mit Infos und Spendenmöglichkeit für die Aktivisten: welcometochechnya.com.

Wie ihr seht, hatte ich einiges zu verkraften. Ich wünsche allen, die diesen Artikel gelesen haben, dass ihr den ein oder anderen Film der hier vorgestellten im Kino sehen könnt (wenn die Kinos wieder öffnen).

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert