Berlinale 2014 – Von sprachlos machenden Filmen, hoch Pornösem & einer Entdeckung aus Brasilien

So fertig sieht einer aus, der sich 46 Filme in 9 Tagen anschaut

Meine 19. Berlinale war vielleicht die anstrengendste. Und das nicht, weil ich während des Festivals auch noch 2 Tage Masterstudium zu absolvieren hatte. Nein, wegen des täglichen Anstehens am frühen Morgen (90-120 Min., davon den größten Teil auf der Straße und somit in der Kälte) für die Karten des Folgetages, das schlaucht auf Dauer. Danach täglich 5-6 Filme. Schlaf pro Nacht auf selbige Anzahl Stunden reduziert. In die Hansestadt reise ich deshalb für gewöhnlich als bildüberfluteter Zombie zurück. Aber gelohnt hat sich das Festival allemal. Once again. Von den 46 Filmen, die ich aus Wettbewerb, Panorama, Forum, Generation14+ und Retro sah, stelle ich die zehn vor, die mich am meisten faszinierten, und von denen ich euch wünsche, dass ihr sie im Kino sehen könnt.

Vor den Filmen noch der heimliche Gewinner des Festivals: der nach drei Jahren aufwendiger Renovierung wieder eröffnete Zoo Palast:

Zoo Palast – außenZoo Palast – innen

 

Er hat seine 80er-Jahre West-Berliner Plüschigkeit bewahrt und wurde mit feinster Ton- und Bildtechnik ausgestattet. Ein Kino-Genuss ganz unabhängig vom Film, den man dort sieht. Die Sessel sind so bequem, dass ich Angst hatte, im gleichen Moment, in dem ich in einem von ihnen versank, sofort einzuschlafen. Aber nein, ich blieb wach und sah dort gute Filme. Einmal davon sogar in Begleitung einer treuen Text & Blog-Leserin – danke nochmals an dieser Stelle für die nette Gesellschaft.

So, nun aber zu den Filmen (Titel verlinkt immer zur Berlinale-Filminfo):

1. The Way He Looks – Hoje eu quero voltar sozinho

Der Film, der mir mit Abstand am besten gefiel, kommt aus Brasilien. Und dabei wär’ ich fast gar nicht rein gegangen. Ein 15-jähriger Blinder verliebt sich in einen Mitschüler. Ich befürchtete schlimmstes (Coming-of-age-) Drama, das auch noch gleich zwei Randgruppen thematisierte. Aber was der brasilianische Regisseur Daniel Ribeiro (geb. 1982 in São Paulo) abgeliefert hat, ist Anlass genug, sich seinen Namen zu merken. Dieser Film ist aber auch dank der hervorragenden jugendlichen Darsteller so gut. Allen voran Ghilherme Lobo, der gar nicht blind ist. Belohnt wurde «The Way He Looks» auf der Berlinale mit dem 2. Platz im Panorama-Publikumspreis – ungewöhnlich für einen brasilianischen Film – und mit dem Teddy als bester Spielfilm. Der Film hat übrigens auch eine Vorgeschichte. Er basiert auf dem in Brasilien enorm erfolgreichen Kurzfilm von Daniel Ribeiro mit den gleichen drei Hauptdarstellern aus dem Jahr 2010 «Eu Não Quero Voltar Sozinho» («Ich möchte nicht allein zurückgehen»), den ihr hier sogar mit deutschen Untertiteln sehen könnt (Länge: 17 Minuten):

2. Boyhood

Für Richard Linklaters «Boyhood» hatten viele den Goldenen Bären erwartet, aber wie immer: der Favorit bekommt ihn nicht. Dieser großartige Film geht auch so seinen Weg. Trotz Überlänge (164 Minuten!) empfehlenswert. Linklater – Regisseur von Before Sunrise, Before Sunset und Before Midnight – hat wieder einmal gezeigt, dass er der Großmeister der Langzeitprojekte ist. Mit den gleichen Darstellern über zehn Jahre zu drehen, ist gewagt gewesen, aber zu unser aller Glück gut ausgegangen. Wir sehen nicht nur die Schauspieler, die über zehn Jahre immer mal wieder für ein paar Drehtage zusammen kamen, älter werden, sondern auch die Entwicklung der Hauptperson vom 6-jährigen Schulanfänger bis hin zum 17-jährigen College-Studenten. Ein selten gelungenes Beispiel von Darstellung des Alltags und uns aller bewegender Fragen, ohne dass Langeweile aufkommt. Und, wie gesagt, das auch noch in einer Filmlänge von fast drei Stunden.

3. Das Große Museum

Vier der zehn Filme, die ich hier vorstelle, sind Dokumentarfilme. Dabei hab ich gar nicht so viele Dokumentarfilme gesehen. Diese vier kann ich jedoch uneingeschränkt empfehlen. In der Hauptrolle des ersten: das Kunsthistorische Museum Wien. Der geschilderte Zeitraum: die Umbauphase bis zur Wiedereröffnung. Wie in oben eingebautem Video ausgeführt: ein Institutionenporträt, das viel lebendiger ist, als man es von so einer Art Film erwarten würde.

4.Finding Vivian Maier

Diese Doku-Perle ist ein Glücksfall. Eine wahre Geschichte, die man sich so gut gar nicht ausdenken kann. Ein junger US-Amerikaner, John Maloof, kauft bei einer Nachlassversteigerung eine Kiste, in der Hoffnung, dass er darin alte Fotos von Chicago findet, die er für sein geplantes Buch über die Geschichte der Stadt brauchen kann. Und er findet auch alte Fotos. Aber was für welche. Unter den unentwickelten Filmen und Negativen verbirgt sich das bis dahin unbekannte Vermächtnis einer Kinderfrau, die leidenschaftlich gerne fotografierte. Diese Bilder aber mit niemandem teilte. Der Film macht sich auch auf die Suche nach den Spuren dieser rätselhaften Frau. Zeigt uns Menschen, die sie kannten, und ihre großartigen Bilder. «Finding Vivian Maier» ist ein beachtliches Filmerlebnis. Nicht nur für Fotografie-Interessierte.

5. Güeros

Über diesen Film hab ich meine Begeisterung ja schon vom Festival aus mitgeteilt, im Artikel Berlinale-Entdeckung: Alonso Ruizpalacios – Güeros:

Nach 20 gesehen Filmen hat mich bislang Güeros des mexikanischen Regisseurs Alonso Ruizpalacios am meisten beeindruckt. Eine Mischung aus Nouvelle Vague und Down by Law in schwarz-weiß gedreht.

Und ich sollte recht behalten, teilte die Berlinale-Jury doch meine Einschätzung, dass Güeros eine Entdeckung sei. Der Film wurde als Bester Erstlingsfilm des Festivals ausgezeichnet.

6. Kraftidioten – In Order of Disappearance

Würde Tarantino einen Film in Norwegen drehen, käme so was wie «Kraftidioten» raus. Mit dem Versprechen Bruno Ganz als serbischen Mafia-Boss zu sehen, dürfte ich euch neugierig genug auf diesen Streifen machen. Hans Petter Moland, so heißt der norwegische Tarantino, hat keinen Film gemacht, der hohe Ansprüche hat, sondern einfach nur gut gemachte Unterhaltung. So etwas tut immer gut in einem Festival voller ernster, Problem beladener Werke. Hier rächt ein brav-(anmutend)-er Vater den Tod seines Sohnes. Er geht dabei nicht gerade zimperlich vor. Der englische Titel «In Order of Disappearance» deutet an, dass die Namen der Personen in der Reihenfolge ihres tragischen – und man mag es gar nicht glauben, teilweise absurd komischen – Todes eingeblendet werden.

7. 20.000 Days on Earth

Nick Cave auf der Bühne des International Zurück zu den Dokus: einer der besonderen Festivalmomente ist für mich immer, wenn ich eine Person live erlebe, die eine gewissen Bedeutung für mich hat. So einer ist zum Beispiel Nick Cave, dessen Musik ich sehr schätze. Er war tatsächlich auf der Berlinale, und – zu meinem großen Glück – bei der Vorstellung im Kino International nach dem Film auch auf der Bühne, um über die Doku zu reden (siehe Foto rechts, auf Klick auch in groß). Er persönlich mag die typischen Band- oder Musiker-Dokus nicht, da diese gemeinhin zur Verherrlichung neigen. Und dem Filmteam ist es tatsächlich gelungen, Nick Cave nicht zu verherrlichen; aber eine herrliche Doku abzuliefern, die sich wohltuend von den vorhersehbaren Biopic-Lobeshymnen über andere Musiker abhebt. Sehenswert.

8. Der Anständige

Es passiert selten, dass ich sprachlos und erschüttert aus dem Kino komme. Hier war es so. Der Dokumentarfilm von Vanessa Lapa über die Tagebücher und Briefe von Himmler verschlägt einem die Sprache. Fassungslos versucht man zu verstehen, dass dieses Monster (und seine – großartig von Sophie Rois gesprochene – Frau) doch tatsächlich dachten, bei dem was sie taten, ihren Anstand zu bewahren. Verantwortlich für den hundertausendfachen Mord an Juden, aber – so betont “Heini” unaufhörlich – “Man müsse immer seinen Anstand bewahren”. Und die Sorgen der Gattin Margarete drehen sich darum, dass ihr “Heini” die Anerkennung nicht bekomme, die er verdiene. Einblicke in die Erziehung der Kinder runden das Grauen ab. Alles schwer zu ertragen. Aber unbedingt anschauen, wenn ihr die Chance dazu bekommt.

9. Das finstere Tal

So wie auch in Norwegen ein an Tarantino erinnernder Film funktionieren kann (siehe Film-Tipp Nr. 6), könnte ja auch mal ein Western in den Alpen spielen, oder? Und ja, das kann er. Was Andreas Prochaska aus der Romanvorlage von Thomas Willmann gemacht hat, ist im wahrsten Sinne des Wortes großes Kino. Diesen Film bitte nicht auf dem Tablet oder am kleinen Fernsehschirm schauen, die Bilder epischer Breite brauchen die große Leinwand des Kinos. Sam Riley hat man seit Control nicht mehr so gut gesehen.

10. Nymphomaniac – Volume 1

Ich habe während des Festivals mit mir gehadert, ob ich mir im ganzen Festivalstress den Lars von Trier antun soll, wo ich ihn doch auch danach im Kino schauen könnte (er läuft ja schon ganz normal bei uns). Aber auf der Berlinale lief er immerhin in der nicht gekürzten, vom Regisseur in fluffige 150 Minuten gepackten Version. Zwei mal war sie ausverkauft, in die dritte kam ich rein. Klar, es ist ein Film mit hoch pornösem Inhalt. Wollte man ihn nur wegen des Pornoanteils sehen, könnte man sich an anderer Stelle im Netz bedienen. Nein, es ist mehr als der Porno, der auch in ihm enthalten ist. Es ist ein clever konzipierter Film, dessen Rahmenhandlung einen Spannungsbogen aufbaut, der zum Ende des 1. Teils quasi cliffhangermäßig in den 2. Teil hinüber getragen wird, auf den ich auch schon gespannt bin.

6 Kommentare zu „Berlinale 2014 – Von sprachlos machenden Filmen, hoch Pornösem & einer Entdeckung aus Brasilien“

  1. @Carsten: Ich hoffe, dass so viele Filme wie möglich es ins Kino schaffen. Der brasilianische hat sogar schon einen deutschen Verleiher. Wir werden ihn natürlich auch hier in Hamburg auf dem Festival des Lateinamerikanischen Kinos zeigen. In Saarbrücken kommt er sicher im Filmhaus. Der Leiter des Filmhaus, @GegenSatz, hat das sicher schon eingeplant.

  2. Ich kann vor Ehrfurcht kaum tippen. Was für ein Pensum du da abwickelst, das Ganze auch noch verarbeiten kannst, “nebenbei” studierst und dann noch darüber bloggst. Ich ziehe glaube ich einen ganzen Hutladen vor dieser Leistung.

  3. @Andrea: Von Ehrfurcht braucht überhaupt keine Rede zu sein, zumal Du ja auch überaus aktiv bist und trotzdem Dein Blog immer wieder mit spannenden Inhalten füllst. Aber danke, natürlich freue ich mich über Deinen Kommentar. 😉

  4. Wie immer eine großartige Rückschau auf die Berlinale. Danke dafür! Und was unseren gemeinsamen Zoopalast-Besuch betrifft: es war mir eine Ehre :).

    1. @Elke: Dass Deneuves “Dans la cour”, den wir gemeinsam sahen, nicht in meiner Top 10 gelandet ist, zeigt nur, wie gut das Festival war, denn das war ja auch kein schlechter Film.

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