Immer, wenn ich von der Berlinale zurückkomme, werde ich gefragt, welche Filme ich denn empfehlen könne. Das ist eine schwer zu beantwortende Frage, weil ich a) so viel unterschiedliches und b) doch auch nur eine Auswahl gesehen habe. Wie immer fasse ich das Gesehene (dieses mal waren es 45 Filme in 9 Tagen) in einem Festivalbericht zusammen, der selbstverständlich sehr subjektiv ist. Diese Berichte helfen übrigens auch mir selbst, wenn ich später nochmal wissen möchte, welche Filme ich auf welchem Festival gut fand. Ich schau das hier immer wieder nach. Aber erstmal schreib ich das für euch. Also, los geht’s:
1. «Un mundo secreto» – A Secret World
Ich beginne mit dem Film, der mir am besten gefiel: «Un mundo secreto» des jungen mexikanischen Regisseurs Gabriel Mariño. Die Entdeckungsreise der jungen María – nach ihrem letzten Schultag auf der reise durch das Land, aber vor allem auf der Suche nach sich selbst – lief in der Sektion Generation 14plus. Die großartige Kamera, die gelungenen, sehr sparsamen Dialoge sind nur schwer in einem Trailer darzustellen. Die nie langweilende, sondern stets spannende Lakonie des Filmes erschließt sich erst bei seiner Betrachtung (ganz ehrlich, würde ich nur diesen Trailer sehen, würde ich mir den Film wohl nicht anschauen wollen):
«Un mundo secreto» heißt ‚eine geheime Welt‘. Kann in doppeltem Sinn auf die Welt, die sie bereist (u.a. den wunderbaren Norden Mexikos, den ich gut kenne, weil ich dort lange gelebt habe) bezogen werden, aber auch auf die eigene, innere Welt, die sie im Lauf des Filmes entdeckt. Mehr zum Film auch im Interview mit Gabriel Mariño. Und so, wie der Film eine Entdeckung für mich war, ist es auch die Hauptdarstellerin Lucía Uribe. Ein Naturtalalent, das erst nach diesem starken Auftritt auch Schauspielunterricht aufgenommen hat. Diesen Namen wird man sich merken müssen. Daher nochmal zum Einprägen: Lucía Uribe.
Hervorzuheben ist die besondere Bild-Ästhetik des Filmes. Das ist auch Christiane Lötsch auf critic.de aufgefallen:
Die einfallsreiche Bildsprache gibt den Filmen eine besondere Ästhetik. „Un mundo secreto“ erzählt Marias Reise in ausgewogen komponierten, ruhigen Einstellungen, durch die sie sich traumwandlerisch bewegt. Geräusche und Stimmen erscheinen oft weit weg, so dass Maria ganz versunken in ihrer eigenen Welt dargestellt wird. Das Spiel mit Schärfen und Unschärfen dirigiert den Blick der Zuschauer und gibt unauffällige Hinweise auf weitere Ebenen der Geschichte.
2. «The Reluctant Revolutionary»
Der irische Dokumentarfilmer Sean McAllister hat im Rahmen der zahlreichen Berlinale-Filme, die sich mit dem arabischen Frühling beschäftigen, mit «The Reluctant Revolutionary» ein sehr eindringliches Dokument der Aufstände abgeliefert. Das ungewöhnliche: er wird begleitet von einem Reiseführer, der zunächst gegen die Revolution im Jemen war und sich erst im Laufe des Filmes auf die Seite der für die Freiheit des unterdrückten Volkes Kämpfenden schlägt.
http://youtu.be/uNIW0oqZDOo
Dem Regisseur ist das gelungen, was er vorhatte und im Interview mit der taz zum Besten gab: «Ich wollte Emotionen wecken». Ein harter, aber sehenswerter Film.
3. «Elles – Das bessere Leben»
Oscar-Glanz zog ins Panorama ein, als Juliette Binoche im International zur Premiere des Filmes der polnischen Regisseurin Malgorzata Szumowska «Elle» erschien. Doch auf der Leinwand ruht sich hier keine mittelalte Diva auf dem Ruhm auf alten Zeiten aus, sondern da spielt eine ganz starke Schauspielerin den Konflikt einer Journalisten, die in Paris unter Studentinnen recherchiert, die sich ihr Studium mit Prostitution finanzieren. Wie sie die professionelle Distanz zu den beiden Frauen, denen sie im Rahmen der Recherche ganz nah kommt, spielt, ist großes Kino. Ansonsten gehe ich auch mit der Rezension von Ciprian David auf Negativ d’accord. Hier der Trailer:
http://youtu.be/uY6UAn7fnag
4. Herr Wichmann aus der dritten Reihe
Nach seinem ersten Film im Jahr 2002 über den Lokalpolitiker aus der Uckermark hat Andreas Dresen acht Jahre später nochmal Herrn Wichmann von der CDU begleitet. Bei jedem anderen regisseur hätte man befürchten müssen, dass es einfach eine Fortsetzung des ersten Filmes werden würde, doch Andreas Dresen hat zusammen mit dem – trotz dieser Partei – sympathischen Politikers das Klein_klein der täglichen Politik gezeigt. Das Bohren dicker Bretter. Zum Tagesgeschäft von Herrn Wichmann, dem man seinen ehrlichen Einsatz für die Bürger seines Wahlkreises ehrlich abnimmt, gehört es, sich dafür einzusetzen, dass ein Zug bei seinem Halt auf einem Regionalbahnhof auch seine Türen öffnet, statt immer nur verschlossen anzuhalten. Wir sehen die Lokalpolitik der kleinen Schritte und brandenburgische Wutbürgerinnen. Dass Henryk Wichmann Humor hat, konnte man auch bei seiner Anwesenheit und der an den Film sich anschließenden Diskussion mit ihm und dem sympathischen Andreas Dresen im Kino spüren. Ein sehr sehenswerter, geradezu herzlicher Film. So sieht es auch der liebe Rochus Wolff auf kino-zeit.de. Hier noch ein schöner Bericht der Deutschen Welle mit vielen Filmausschnitten:
5. L’enfant d’en haut
Auf jedem Festival sieht man ein, zwei Filme, die sich ganz stark im Gedächtnis einprägen. «L’enfant d’en haut» von Ursula Meier ist so einer. Soziales Kino, das unter die haut geht. Der 12jährige Simon fährt jeden Tag mit dem Skilift hoch in die Berge und beklaut dort die ahnungslosen Touristen. Danach verkloppt er die Sachen (Skibrillen, Handschuhe, Skier etc) und bestreitet so den Lebensunterhalt für sich und, wie wir zunächst lernen, von seiner älteren Schwester. Kacey Mottet Klein, der auch schon im Kinofilm «Gainsbourg» den jungen Serge Gainsbourg gespielt hat (siehe Bericht SF). Wie cool der Kleine spielt, sieht man auch in diesem kurzen Filmausschnitt:
Man kann diesen Film eigentlich nicht umfassend besprechen, ohne die Wendung zu verraten, die er in der 2. Hälfte nimmt. Ich halte mich an den nichts verratenden Absatz des perlentauchers, um euch den Film nicht zu spoilern:
Zur Halbzeit offenbart „L’enfant d’en haut“ ein kleines Geheimnis, das die Koordinaten des Films überraschend verrückt. Man kann das einen billigen Trick schelten, in Wirklichkeit radikalisiert er das, was sich als recht handelsübliches Arthouse-Szenario anließ, in Richtung einer grundsätzlicheren Infragestellung – oder doch zumindest: einer Befragung – des Familiären, die man dem Film bis dahin nicht zugetraut hätte.
Meine Empfehlung: reingehen, wenn er ins Kino kommt. Wenn (das ist ja immer die Frage bei Festivalfilmen). Am 18. April kommt er in Frankreich in die Kinos. In der Schweiz wird er sicher auch laufen. Auf einen deutschen Kinostart hoffe ich (für euch). Die Starttermine werden in der IMDB aktualisiert.
6. Blut muss fließen
Es gehört zu den harten Grausamkeiten eines Filmfestivals, dass man in kürzester Zeit mit sehr vielen ernsten Themen konfrontiert wird. Die Zeit zwischen zwei Filmen reicht nie aus, um das gerade Gesehene zu verarbeiten. Schon sitzt man im nächsten Film, schon wird man mit dem nächsten harten Schicksal oder Thema konfrontiert. Nach «Blut muss fließen» war ich zunächst so geschockt, dass ich dachte, den Film danach ausfallen lassen zu müssen. Habe mich dann doch überwunden, obwohl es schwer fällt. Der Film zeigt die Undercover-Recherchen von Thomas Kuban, der den Mut hatte, sechs Jahre lang ca. 50 Undercover-Drehs n der Neonazi-Musikszene in Deutschland und 7 weiteren europäischen Ländern zu machen. Wenn man sieht, wie Kids – und auch Ältere – über die Musik in die geheim organisierten Konzerte gelockt werden, und wie wenig bis gar nichts die Polizei dagegen unternimmt, kann einem gerade zu schlecht werden. Dass Daniel Erk dem Film am Ende seines Artikels «Hass aus hundert Kehlen» in der ZEIT vorwirft, nicht die weiteren Hintergründe zu recherchieren (wer organisiert das? Wieso unternimmt die Polizei nichts?), finde ich sehr überzogen. Der Film, der keinerlei finanzielle Unterstützung – weder durch Sendeanstalten noch durch Filmförderung) erfahren hat, zeigt erst mal Tatsachen auf. Es wäre spätestens jetzt an der zeit, dass die Tatenlosigkeit nicht mehr hingenommen wird. DAS alleine ist schon ein großer verdient. Wer sich weiter informieren möchte, dem empfehle ich das Interview mit Regisseur Peter Ohlendorf und mit dem Undercover-Rechercheur Thomas Kuban in der ZDF-Mediathek anzuschauen (ehe es dort zwangsdepubliziert wird).
[Update 1.3.2012: 1Live-Interview mit Thomas Kuban zum Nachhören. Ende Update]
7. Sonstige
Um diesen nun doch sehr lang gewordenen Artikel etwas abzukürzen, liste ich hier nur noch vier weitere Filme auf, die ich gut fand und von denen ich nur noch jeweils das Berlinale Datenblatt, einen Trailer und eine Rezension verlinke. Diese Filme sind wegen der verkürzten Darstellung sicherlich nicht weniger sehenswert als die zuvor genannten:
«Barabara» von Christian Petzold
http://youtu.be/q_Pn9zwhJtI
Kritik: Thomas Groh im Perlentaucher: Am Meer ein Gefängnis: Christian Petzolds ‚Barbara‘
«Was bleibt» von Hans-Christian Schmid
Kritik: Nino Klingler auf critic.de: Was bleibt – In den besten Familien.
«Gnade» von Matthias Glasner
http://youtu.be/CY7CBMphggI
Kritik: Nino Klingler auf critic.de: Am Ende der Welt, am Ende der Moral: Matthias Glasner bittet zur Beichte.
Francine von Brian M. Cassidy
Kritik: Thomas Groh in der taz: Jeder tanzt für sich allein
Danke für die von mir lange erwartete Besprechung der gesehen Filme, denke der ein oder andere Tipp ist für mich dabei. Leider konnte ich den Film „Blut muss fließen“ nicht in der ZDF Mediathek finden, oder ich bin zu spät…
@Aquii: Der Film ist auch nicht in der ZDF-Mediathek zu finden, sondern die am Ende des Filmberichtes verlinkten beiden Interviews mit dem Regisseur und mit Thomas Kuban. Und die Interviews sind noch da, hab‘ s gerade wieder überprüft.
schließe mich Aquii an und bedanke mich, dass Du Dir immer wieder die Mühe machst, die Berlinale und besten Filme, die Du dort gesehen hast, so aufzubereiten. Ich hoffe auch sehr, dass L’enfant d’en haut auch in den Deutschen Kinos an den Start gehen wird, weil ich sehr auf diesen Film gespannt bin, von dem ich nur Gutes gehört habe.
Die Doku „Blut muss fließen“ würde ich auch gerne zu sehen bekommen. „Gnade“ von Matthias Glasner werden wir sicher zu sehen bekommen und ich bin auf den Film gespannt, nicht nur wegen der Location.
„Barbara“ und „Elles – Das bessere Leben“ hatte ich mir auch schon vorgemerkt.
Dein Lieblingsfilm „«Un mundo secreto» – A Secret World“ klingt ebenfalls sehr vielversprechend aber ich fürchte, den werden wir vermutlich in Deutschen Kinos eher nicht zu sehen bekommen.
Dass dich „Das Blut muss fließen“ schockiert hat, kann ich gut nachvollziehen. Ich haben den Bericht bei kulturzeit darüber gebannt verfolgt. „Un mundo secreto“ werde ich mich mir notieren, dass klingt sehr interessant.
Hast du den Film mit der Kindersoldatin gesehen? Anhand der Berichterstattung würde ich vermuten, dass mich dieser Film ebenfalls sehr schockiert hätte.
Vielen Dank für deinen Bericht. 🙂
@Liisa: „Gnade“ wird Dir, trotz des ernsten Themas, aber wegen des wunderschönen Settings, gefallen. Ja, der Mexikaner („Un mundo secreto“) wird es kaum in deutsche Kinos schaffen. Vielleicht mal auf ein Festival.
@Tobias: Gern geschehen. Ja, Rebelle habe ich gesehen. Auch ein sehr harter Film (unfassbar, mit welchen Schicksalen man innerhalb kürzester Zeit konfrontiert wird). Die Hauptdarstellerin hat verdient den Preis für die beste Darstellung auf der Berlinale bekommen.
Vielen Dank für deinen persönlichen Berlinale-Bericht, der auch von mir jedes Jahr ebenso sehnsüchtig erwartet wird wie das Festival selbst. Dank 3SAT und RBB bin ich diesmal relativ gut auf dem Laufenden und auch mein Sohn hat diesmal live aus der Hauptstadt berichtet.
Ich bin schon sehr gespannt, welche dieser Filme in unsere Kinos kommen und werde versuchen, so viele wie möglich davon zu sehen!
@Carmen: Wen ich bedenke, dass ich an Deinem Sohn vllt. vorbeigelaufen bin, ohne ihn zu erkennen… Freut mich, dass Du meinem Bericht gelesen hast udn ich hoffen, dass möglicht viele der Filme davon auch tatsächlich ins Kino kommen.