Eine Auswahl meiner Berlinale-Favoriten 2011

So, ehe ich meinen Berlinale-Artikel nun gar nicht mehr schreibe, fange ich einfach mal damit an und mach evtl. zwei Teile daraus. Es ist eben gar nicht so einfach einige Werke heraus zu heben, wenn man 46 Filme in 9 Tagen gesehen hat. Ich versuche es trotzdem.

Gleich der erste Film, den ich dieses Jahr in Berlin sah, hat mich sehr beeindruckt: «Min Dît: Die Kinder von Diyarbakir». Der von Fatih Akin mit produzierte kurdischsprachige Film des Berliner Filmemachers Miraz Bezar ist ein Drama über zwei kurdische Kinder, die sich nach dem politischen Mord an ihren Eltern auf der Straße durchschlagen müssen:


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Kino.de schreibt:

In seinem eindrucksvollen Regiedebüt gelingt dem kurdischstämmigen dffb-Absolventen Miraz Bezar ein kleines Wunder. Trotz politischem Anliegen verzichtet er auf dogmatisches Botschaftskino, setzt auf das subjektive Erleben der Kinder (alles Laiendarsteller) und verstärkt dadurch subtil das Empfinden der Folgen staatlichen Terrors. Gut gezeichnet ist die Figur des Mitglieds der türkischen Geheimpolizei, ein Folterer und Killer und gleichzeitig fürsorglicher Familienvater. Schon allein die intelligente Schnitttechnik entlarvt die moralische Ambivalenz dieses Mannes. Abenteuerlich ist die Entstehungsgeschichte dieses von der Filmförderung abgelehnten Juwel: Bezar zog nach Diyarbakir und recherchierte vor Ort, die Mutter verkaufte ihr Häuschen, der Onkel zahlte die Hotelrechnungen und Fatih Akins corazòn international unterstützte die Fertigstellung.

Nach so einem ernsten, tief traurigen Film möchte ich gleich einen zweiten hinterher empfehlen, der zwar auch ein ernstes Thema behandelt, dies aber in Form einer recht unterhaltsamen Komödie tut: Almanya – Willkommen in Deutschland von der deutschen Regisserin türkischer Abstammung Yasemin Şamdereli:


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Ja, zugegeben, das ist auch viel Klamauk und gegen Ende lässt der Film nach. Aber der fremde Blick auf die deutsche Leitkultur der 60er Jahre, ganz besonders der aus Kindesperspektive, ist schon sehr lustig. Die interkulturelle Kulturkritik, bei der beide Seiten, die deutsche und die türkische, nicht immer gut weg kommen, ist zwischen den Zeilen zu lesen. Wer sie lesen mag, wird sie entdecken. Also: sehenswert!

Ich werde immer wieder gefragt, welcher Film hat Dir denn am besten gefallen. Das ist immer ganz schwer zu sagen, da man so viele unterschiedliche Filme aus zig verschiedenen Ländern, entstanden unter ganz und gar unterschiedlichen Voraussetzungen schlecht vergleichen kann. Wenn ich einen Film als mein persönliches Highlight der Berlinale nennen sollte, dann fiele meine Wahl auf den argentinischen Film: Medianeras von Gustavo Taretto.

Worum geht’s in dem Film. Um einen, der seit zehn Jahren gefühlt auf einem Stuhl vor dem Internet sitzt. Doch es geht um viel mehr. Ich zitiere aus der Berlinale-Filmbeschreibung:

Dies ist die Geschichte von Mariana, Martín und der Stadt Buenos Aires. Martín und Mariana leben im selben Wohnblock, in einander gegenüberliegenden Häusern. Aber sie treffen sich nie. Sie gehen aneinander vorbei, ohne von der Existenz des anderen zu wissen. Mariana geht die Treppe hinauf, als Martín sie hinuntergeht; er steigt in den Bus, wenn sie aussteigt. Sie sind in derselben Videothek, doch getrennt durch ein Regal. Sie sitzen im Kino in derselben Reihe, aber im Kinosaal ist es dunkel. Die Stadt bringt sie zusammen und hält sie gleichzeitig voneinander fern.

Es ist schon so großartig, wie der Film am Beginn die Architektur von Buenos Aires beschreibt und die Analogie zu den dort lebenden Menschen aufzeigt:


Trailer "Medianeras"
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Martin Gobbin kommt auf F.LM genau so ins Schwärmen wie ich:

„Medianeras“ ist einer jener Filme, die all das Mittelmaß, dem man auf einer Berlinale begegnet, vergessen lassen – ein Werk, das all die auf der Suche nach Festivalperlen erlebte Langeweile ausgleicht. In „Medianeras“ geht es um Einsamkeit, urbane Anonymität, Depressionen, Phobien und Selbstzweifel.

Gobbin übertreibt keinesfalls, wenn er resümiert:

„Medianeras“ besticht nicht allein durch seine tiefgründige und zugleich komödiantische Erzählweise, sondern auch durch seinen stilistischen Esprit. Der Film entwickelt durch seine kontrastreiche Montage einen spielerischen Bildwitz, wenn er die architektonischen Texturen der Stadt erkundet. Auch die Einbindung von Animationen in die photographischen Bilder ist eine ziemlich gelungene visuelle Innovation. Jene Verbindung aus einem durchdachten Drehbuch und vielen technischen Raffinessen macht diesen kleinen Film zu einer großen Entdeckung und – das ist keine Übertreibung – zur Messlatte für künftige filmische Untersuchungen von Urbanität im Zeitalter des Internets.

Nilz N. Burger gefiel der Film ja nicht so sehr, wir er in dieser auf der Straße aufgenommenen Video-Schnell-Rezension zum Besten gibt. Er sieht zwar Perspektive für den Regisseur, fand den Film aber schnarchig. Kann ich nicht nachvollziehen. Vielleicht hat er bei der Beurteilung des Films seinen Ärger über den Soundtrack auch überproportional einfließen lassen.

Einen weiteren argentinischen Film, mit dem Teddy als bester Spielfilm ausgezeichnet, kann ich auch sehr empfehlen: «Ausente» des jungen argentinischen Filmemachers Marco Berger:


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Hier wird das Thema Missbrauch eines Minderjährigen einmal umgedreht: es ist quasi der …

…Missbrauch eines Erwachsenen durch einen Minderjährigen, der um die heikle Position seines Lehrers weiß und sie ausnutzt. Marco Bergers origineller Spielfilm erzählt vor allem mit den Blicken, die seine Protagonisten austauschen. Dem herausfordernden Blick Martins, konterkariert durch eine entschuldigende Körpersprache, die allerdings nicht verbergen kann, dass er Tabus zu verletzen, sich Territorien anzueignen sucht. Dem ausweichenden, ängstlichen Blick Sebastians, der nicht wahrhaben will, welches Spiel mit ihm getrieben wird.

Zitat von Christoph Terhechte, Filmbeschreibung Forum.

Abschließen möchte ich den Reigen der hier vorgestellten Filme mit einer britischen Coming-of-Age-Komödie, der man nur wünschen kann, dass sie auch den Weg in deutsche Kinosäle finden wird: Submarine von Regisseur Richard Ayoade (bekannt als einer der Hauptdarsteller von The IT Crowd):


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Ein Film nicht nur für Filmfans. Warum aber gerade die ihren besonderen Spaß haben, ist auf satt.org nachzulesen:

Kubrick und insbesondere A Clockwork Orange ist für jeden, der den Film gut kennt, allgegenwärtig. Die parallele Kamerafahrt beim Spaziergang über eine Müllhalde, einige Korridore, die Lichtsetzung beim Auftritt von Graham T. Purvis, die roten und blauen Zwischenschnitte. Doch es gibt soviel mehr zu entdecken: etwa eine Familienansicht, die das bekannteste Bild aus Woddy Allens Interiors kopiert. Oder mein persönlicher Favorit: Oliver läuft wie Antoine Doinel in Les quatre-cents coups (dt.: Sie küssten und sie schlugen ihn) über den Strand, auf eine kleine Person in einem roten Mantel zu, deren Geischt dann wie in Nicolas Roegs Don’t Look Now (dt.: Wenn die Gondeln Trauer tragen) oder zuvor in Hitchcocks Psycho offenbart wird (übrigens mit weniger traumatischem Ausgang.)

Natürlich habe ich noch viel mehr Gutes gesehen auf der Berlinale. Ich nenne deshalb abschließend noch ein paar Filme, die mich beeindruckt hatten:

  • Tropa de Elite 2 (noch besser als der Erste!)
  • True Grit (Dass er keinen Oscar bekommen hat, zeigt die Irrelevanz dieser Altherren-Veranstaltung aus L.A., bei Codecandies gibt es einen guten Artikel zum Film der Coen-Brüder)
  • The Guard (klasse irischer Film mit wie immer starkem Blendan Gleeson)
  • El Mocito (Doku aus Chile über einen, der gesteht, unter Pinochet an Folterungen beteiligt gewesen zu sein; hart, aber sehenswert)
  • Escuchando al Juez Garzón (es ist weniger der spontan zustande gekommene Interview-Film von Isabel Coixet, der begeistert, sondern die Zivilcourage des mutigen Untersuchungsrichters)
  • Folge Mir (sehr trauriger österreichischer Film über eine depressive Frau, mit immer wieder auch komischen, stets aber sehr berührenden Momenten. Für mich die Filmszene des Festivals: Die Mutter tanzt beim Abwasch zu James Lasts «Wem Gott will rechte Gunst erweisen» durch die Küche. Die Filmbeschreibung bringt es auf den Punkt: «Ein stilles Drama um eine versehrte Familie. Eine wie viele.»)
  • En terrain connus (ein Festival ohne kanadischen Film ist für mich kein Festival, dieser hat mich nicht enttäuscht!)
  • Wer wenn nicht wir («Vesper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus» lautet der Titel des Buches von Gerd Koenen, auf dem Andres Veiels Film basiert. Hat mich sehr beeindruckt, kommt ja am 10.3. in die Kinos, da könnt ihr euch selbst überzeugen.)
  • Brownian Movement Holländischer Film (Trailer) von Nanouk Leopold über eine gut aussehende, verheiratete Ärztin, die Sex mit – meist weniger attraktiven – Patienten in einer eigens dafür angemieteten Wohnung hat. Ihr bildhübscher Ehemann ist verständlicherweise schockiert, als er davon erfährt. Sehr strange, doch äußerst sehenswert).

10 Kommentare zu „Eine Auswahl meiner Berlinale-Favoriten 2011“

  1. Da hat sich das Warten für den geneigten T&B-Leser mal wieder voll gelohnt:-)
    Toll, dass du dir wieder die Zeit genommen hast, deine Eindrücke mit uns zu teilen.
    Und ich freue mich, dass ich mir viele der Filme auch ausgesucht hätte, wenn ich in Berlin mehr hätte sehen können.
    Jetzt heißt es also Augen auf, ob und wann welche der Empfehlungen laufen.
    Und erst mal auf Morgen freuen: wenn alles gut geht, sehe ich Almanya – endlich zum ersten Mal im Abaton…

  2. @Carmen: Danke für Deinen Kommentar. Freut mich, dass Du mit Almanya gleich einen der vorgestellten Filme wirst sehen können. Denk dran, im Abaton sicherheitshalber zu reservieren. Geht auch online.

  3. Hehe, gerade gestern, als ich am PotsPlatz vorbei lief, dachte ich noch: “Ob ich dem Markus mal eine “Erinnerungs”-Mail schicke, wo denn der Berlinale-Bericht bleibe?”
    Und schwupps hat sich mein Wunsch erfüllt. Auch ohne Mail. Herzlichen Dank für deinen umfangreichen und sehr informativen Bericht!

  4. Bin auch sehr froh und dankbar, dass Du uns nun Dein Fazit über die diesjährige Berlinale mitgeteilt hast. Hab mir gleich ein paar der Filme, die Du genannt hast, vorgemerkt! Danke!

  5. @Liisa: Danke, durch Kommentare wie Deinen (und die der anderen) weiß man, warum man so was macht. Was die spanischsprachigen Filme anbelangt, hast Du ja mit Cine Latino in Tübingen gute Chancen, was davon im Kino zu sehen.

  6. Von den Kurzinhaltsangaben her sind ein paar Filme dabei, die mich interessieren. Den Links auf Trailer kann ich erst später folgen…

    46 Filme in 9 Tagen – Sie sind wahnsinnig. 🙂

    1. @Jekylla: Ja, man muss schon ein bisschen wahnsinnig sein, um sich das anzutun.
      Falls Sie die Trailer später nachschauen, dürfte Sie auch dieser (oben nur in den Kurzempfehlungen aufgeführte Film) interessieren:


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