Festivalbericht San Sebastián 2022

Mein 27. Festival: 45 Filme in neun Tagen gesehen. Auf den Leinwänden harte Konkurrenz für das gute Wetter (siehe Fotos) und das köstliche Essen in San Sebastián. Doch die Treue zu den Kinosälen in Donostia hat sich gelohnt. Es war wieder mal ein sehr gutes Festival. Dies sind die zehn Filme, die ich am besten fand. Die Reihenfolge stellt keine Wertung dar. Wie immer verlinkt der Filmtitel auf die englische Filmbeschreibung des Festivals:

1. Suro

von Mikel Gurrea, Spanien 2022

Für einen Erstlingsfilm ist Suro ein erstaunlich reifer Film. Mikel Gurrea aus San Sebastian hat ihn gedreht, und, obwohl er selbst Baske ist, spielt der Film in Katalonien. Er wurde auf dem Festival als bester baskischer Film ausgezeichnet. Ein junges Paar zieht von Barcelona aufs Land, weil die Frau von ihrer Tante ein Haus und einen dazugehörigen Wald geerbt hat. Sie arbeiten sich in die Korkernte ein (vor allem er), richten das Haus nach ihren Vorstellungen ein (vor allem sie) und sehen sich mit einem komplett neuen Leben konfrontiert, das auch ihre Beziehung vor Herausforderungen stellt.

2. Argentina, 1985

von Santiago Mitre, Argentinien 2022

Der zu Recht mit dem Publikumspreis auf dem Festival in San Sebastián ausgezeichnete Film Argentina, 1985 basiert auf einem realen Geschehen der jüngeren argentinischen Geschichte: dem von den Staatsanwälten Julio Strassera und Luis Moreno Ocampo auf den Weg gebrachten Prozess zur strafrechtlichen Verfolgung der Militärdiktatur Argentiniens. Die beiden Staatsanwälte werden brilliant gespielt, nicht nur vom legendären Ricardo Darín sondern auch vom bis dato weniger bekannten Peter Lanzani. Ab 21. Oktober auf Amazon Prime Video zu sehen.

3. Girasoles silvestres

von Jaime Rosales, Spanien 2022

Girasoles silvestres

Trailer

Jaime Rosales gehört zu meinen spanischen Lieblingsregisseuren. Er macht nur alle vier bis fünf Jahre einen Film. Dieses Jahr war es wieder soweit, entsprechend gespannt war ich auf Girasoles silvestres. Julia, grandios gespielt von Anna Castillo, ist eine 22-jährige Mutter von zwei Kindern. Sie lebt nacheinander mit drei verschiedenen Männern, die für drei Typen von Machismus stehen. Alle drei, darunter auch der Vater ihrer Kinder, zu dem sie zwischenzeitlich zurückkehrt, tun ihr aus unterschiedlichen Gründen nicht gut. Alle drei verletzen sie, physisch und/oder mental. Unausgesprochen bleit die Frage von Julias Schuld.

4. La consagración de la primavera

von Fernando Franco, Spanien 2022

Der für mich beste Film des Festivals, und, wie von den meisten Kritikern gesehen, der Wettbewerbsbeitrag, der es am ehesten verdient hätte, mit der Conacha de Oro, dem Hauptpreis des Festivals, ausgezeichnet zu werden, kommt von Fernando Frannco. Der 1976 geborene Regisseur wurde bereits 2014 mit einem Goya für seinen Erstlingsfilm “La herida” ausgezeichnet. In “La consagración de la primavera”, was so viel heißt wie “Die Einweihung des Frühlings” geht es um die ungewöhnliche Beziehung der jungen Studentin Laura und des an zerebraler Lähmung leidenden David. Und es geht um die Sexualität von Menschen, die im Rollstuhl sitzen. Ein sensibles Thema, das ungewöhnlich rücksichtsvoll inszeniert wurde. In der Rolle von Davids Mutter: die großartige Emma Suárez. Sehr sehenswerter Film. Wie gesagt, für mich der eigentlich verdiente Gewinner der Concha de oro. Zu dem Film, der sie statt dessen bekommen hat, kommen wir noch.

5. Alcarràs

von Carla Simón, Spanien 2022

Der diesjährige Berlinale-Gewinnerfilm “Alcarràs” wurde in der Reihe Perlak (Perlen anderer Festivals) gezeigt. Da ich dieses Jahr nicht auf der Berlinale war, konnte ich ihn endlich in San Sebastián sehen. Carla Simón ist ein außergewöhnlich guter Film gelungen. Gezeigt wird das Schicksal einer katalanischen Familie auf dem Land und deren letzte Saison auf ihrer Pfirsischplantage. Diese seit acht Jahrzehnten währende Tradition würde die Familie gerne fortsetzen. Doch die Modernisierung – hier konkret Photovoltaik statt Pfirschanbau – macht auch vor jener familiären Idylle keinen Halt. Beeindruckend ist die Arbeit der nicht-professionellen Schauspielerinnen und Schauspieler aus der Gegend von Alcarràs, die – so Regisseurin Carla Simón – “eine wirkliche Verbindung zum Land und zum Boden haben und die den besonderen Dialekt dieser katalanischen Region sprechen” (Quelle).

6. Los reyes del mundo

von Laura Mora, Kolumbien 2022

Mich hat es überrascht, dass dieser Film die Concha de Oro, und damit die höchste Auszeichung, die San Sebastián zu vergeben hat, gewonnen hat. Ein guter Film, keine Frage, aber für mich kein Siegerfilm. Doch das ist meine persönliche Einschätzung. Gerade hat er am Wochenende auch auf den Filmfestivals in Zürich und Biarritz Preise eingeheimst. In Los reyes del mundo machen sich fünf Freunde auf den Weg, den Besitz der verstorbenen Großmutter von Rá, einem der fünf Freunde zurückzufordern, der dieses im Bürgerkrieg von den Paramilitärs abgenommen wurde. Mit den Papieren zum Nachweis des Besitzanspruches ausgestattet, soll ein Grundstück und ein Haus zurückgefordert werden, das Rá zusteht. Eine Reise durch die Wälder und Berge Kolumbiens beginnt, die zeigt, wie brutal die Zustände im Land sind, wie schwer es ist, auch nur irgendjemandem zu vertrauen. Gepaart mit Momenten der Besinnung, fantastischen Naturaufnahmen und Erscheinungen im Stile des realismo mágico werden wir Zuschauer mit auf die Reise dieser fünf Freunde genommen, die sich nun als Familie begreifen und ihren Traum, die Könige der Welt zu sein, erfüllen wollen.

6. Triangle of Sadness

von Ruben Östlund, Schweden 2022

Gerade weil es auf Festivals so viele ernste Filme gibt, die meist sehr harte Themen behandeln, freue ich mich immer, wenn es auch mal was zu lachen gibt. Und das gibt es zu Hauf in dieser Gesellschaftssatire, die im Mai bereits in Cannes als bester Film ausgezeichnet wurde. Wir werden anhand eines Influencer-Pärchens mitgenommen auf eine Kreuzfahrt der Schönen – manchmal auch der nicht so Schönen – und Reichen. Russische Oligarchen, britische Waffenhändler und sonstige Menschen mit extrem viel Geld verbringen in voller Dekadenz eine Reise auf einem Luxuskreuzfahrtschiff. Als dieses Schiffbruch erleidet und sich einige Überlebende auf eine Insel retten, werden soziale Hierarchien umgedreht. Eine Frau, die vorher auf dem Schiff die Toiletten geputzt hat, sichert das Überleben der Gruppe, weil sie als einzige Fische fangen kann und Feuer machen kann. Sie wird sich ihrer Machtposition bewußt und spielt diese knallhart aus. Sehr stark in einer Nebenrolle: Iris Berben, nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzend und nur in der Lage “In den Wolken!” oder “nein” zu sagen.

8. Modelo 77

von Alberto Rodríguez, Spanien 2022

Der Eröffnungsfilm des Festivals hat uns zurück ins Jahr 1977 geführt, in das Gefängnis Modelo in Barcelona. Anhand der Geschichte des jungen Insassen Manuel, der sich einer Initiative zum Schutz der Rechte Gefangener (COPEL, Coordinadora de presos en lucha) anschließt, erfahren wir das, was wir von Gefängnissen immer schon geahnt haben: dass sie keine Orte sind, an denen Gerchtigkeit herrscht, sondern ein Raum, in dem die Insassen unkontrollierter und übergriffiger Autorität des Staates und gleichzeitig der Gewalt durch Mitinsassen ausgesetzt sind. Eine Aussage, die dem Regisseur wichtig war, transportiert er über die Geschichte: innerhalb eines Gefängnisses spiegelt sich auch der Zustand der Gesellschaft wieder. Dass sich Spanien nach dem Tod von Franco im Jahre 1975 langsam verändert (Stichwort Transición) ist ein Prozess, der sich in den Gefängnissen des Landes noch langsamer und mit größerer Verzögerung vollzogen hat.

9. Resten af livet

von Frelle Petersen, Dänemark 2022

Als internationales Festival bietet San Sebastián einen Blick in das Kino der ganzen Welt. Auch in das von kleineren Filmländern wie zum Beispiel Dänemark. Resten af livet (mit “Forever” als englischem Filmtitel schlecht übersetzt, denn es heißt “Den Rest deines Lebens”) hat mich sehr beeindruckt. Der Film zeigt anhand einen vierköpfigen Familie wie diese ganz unterschiedlich mit Trauer umgeht, als ein Mitglied der Famile plötzlich verstirbt. Und sie zeigt den schmerzhaften Versuch der Zurückgebliebenen nach der Phase der Trauer langsam wieder den Weg zurück ins Leben zu finden. Für solche Filem fahre ich auf Filmfestivals, denn selten schaffen sie es später ins Kino und ich bin froh, sie – wie in diesem Fall – gesehen zu haben.

10. La Maternal

von Pilar Palomero, Spanien 2022

Die erst 14-jährige Carla Quílez wurde vollkommen zurecht als beste Schauspielerin des Festivals ausgezeichnet für die Interpretation der Rolle einer minderjährigen Mutter in Pilar Palomeros “La Maternal”. Die titelgebende Einrichtung ist ein Zentrum für minderjährige Mütter in dem sie gemeinsam mit anderen jugendlichen Müttern auf die Geburt ihrer Kinder vorbereitet werden und die Babys dort unter Aufsicht und Anleitung von Sozialarbeiter:innen aufziehen. Ein Film, der einfühlsam inszeniert viel sagt über die Rolle von Kindern, die selbst Kinder bekommen, und über abwesende Väter, die meist gar nichts von ihrer Vaterschaft wissen.

6 Kommentare zu „Festivalbericht San Sebastián 2022“

  1. Vielen Dank wieder für Deinen Bericht aus San Sebastián und über die Filme, die Dich am meisten beeindruckt haben. Ich hoffe, einige davon werden irgendwann auch hier bei uns zu sehen sein. “Argentina, 1985” habe ich mich gleich schon mal vorgemerkt. Schön, dass der auf Prime gezeigt werden wird.

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