Mercedes Neuschäfer-Carlón


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Mercedes Neuschäfer-Carlón

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Rosemarie Bollinger:


WEGE, DIE NIEMAND MEHR ZERTRAMPELT


Es war einmal ein kleines Mädchen, in Spanien geboren, im Norden, in der alten Stadt Oviedo: Elena. Ein nachdenkliches Kind; eine komplizierte kleine Persönlichkeit. Sie lebt vor 1936, bevor der Bürgerkrieg beginnt, in einem schönen Haus mit einem großen Garten, umgeben von Spielgefährten und behütet von toleranten Erwachsenen, die sie liebt. Dennoch quälen sie starke Ängste; furchtbare obsessive Phantasien von der Hölle und, vor allem, vom Tod. Die Idee eines Himmels – farblos, leblos; die Vorstellung, in diesen Himmel zurückzukehren – eher ein Alptraum als ein Trost. Vier, fünf Jahre alt damals, sprach Elena darüber mit niemandem. Sie hätte auch noch nicht die Fähigkeit gehabt, sich mit Worten auszudrücken. Sie tut es im Spiel. Und niemand beachtet es.

Elena ist die autobiographische Hauptperson in La acera rota (Der zerstörte Bürgersteig), ein Roman über Kinder und für Erwachsene der spanischen Schriftstellerin Mercedes Neuschäfer-Carlón. Elena erfindet sich ihr eigenes – böses – Spiel von Himmel und Hölle. Manchmal darf sie die Mutter in die Stadt begleiten. Teil des Weges ist ein breiter, gepflegter Bürgersteig, gepflastert mit ungleich großen Steinen, sodaß die Linien zwischen ihnen nicht regelmäßig verlaufen. Elena spielt, dass sie nie auf eine dieser Linien treten darf, will sie nicht „zur Hölle verurteilt“ sein. Sie hüpft, sie springt, sie geht mit äußerster Konzentration, aber es gibt keine Rettung, keinen Weg ohne das Ende in der „ewigen Verdammnis“.

Sie ist fünf, als ihr der Tod zum ersten Mal in der Wirklichkeit begegnet. Ein Onkel stirbt, und alles ist anders als in der Phantasie. Der Schmerz, der Schrecken der unergründlichen schwarzen Wand: Zeremonie. Und der Alptraum: die Lebenden. Diese Invasion fremder Erwachsener im Haus, ihre vielen falschen Töne, wenn sie – nett – mit oder über Elena sprechen, als wäre sie ein Gegenstand oder geistesschwach oder taub. Sie flüchtet in den Garten, hilflos, ungemein zornig über die Entwürdigung.

Dabei wird sie sich bewusst, dass sie eine Person ist, und in einem Augenblick der Klarsichtigkeit, zu der kleine Kinder fähig sind, sagt sie sich: Ich bin fünf, und ich denke. Keiner der Großen ahnt, dass ich denken kann. Aber ich bin fünf, und ich denke. Das will ich nicht vergessen.

Kurze Zeit danach zerbricht der „Bürgersteig“, ihre Welt stürzt ein. Alle Wege, auf denen Menschen aufrecht gehen und zueinander gehen konnten: zertrampelt, zertrümmert, für Jahrzehnte unbegehbar gemacht. Dennoch oder darum hat Elena das sich selbst und damit allen Kindern gegebene Versprechen gehalten. Es gehört zu der Substanz aller Bücher von Mercedes Neuschäfer-Carlón, so verschiedenartig diese auch sind. Immer wieder sucht sie, denkt sie „Bürgersteige“, Wege, die nicht in Zerstörungen führen.

Sie ist eigentlich Literaturwissenschaftlerin. Trotz einer beschädigten Kindheit und Jugend machte sie mit 16 Jahren Abitur, arbeitete, erhielt schließlich die Möglichkeit zu studieren und begann, nach Abschluß der Studien in Madrid, in der Bundesrepublik eine Universitätslaufbahn.

Diese Karriere brach sie aus persönlichen Gründen ab. Seit 1972 unterrichtet sie jedoch Kinder hauptsächlich spanischer Arbeiterfamilien im Saarland. Es war notwendig, und niemand sonst war da. Diese Kinder brachten sie dazu, in der ihr eigenen scheinbar einfachen, bestechend klaren und intensiven Sprache Bücher zu schreiben. Sie brauchten, vielleicht mehr noch als Kinder, die im eigenen Land, in der eigenen Sprachwelt aufwachsen können, Ermutigung, Zuneigung, Freude; sie brauchten, wie alle Kinder, Geschichten und ganz besonders Märchen. Wie alle Kinder wollten sie manche Erzählung wieder und wieder hören – und eines Tages selbst lesen. Dabei stellten sie fest, enttäuscht, überrascht, stolz, alles in einem, dass es das Buch, das sie lesen wollten, nicht gab; dass alles nur erdacht war – aber für sie. Lesen jedoch wollten sie trotzdem.

So kommt es, dass mittlerweile fünf Bücher in Spanien erschienen, weitere demnächst folgen, neue entstehen; dass die Reaktionen der Leser nicht weniger stark sind als die der ersten Zuhörer; dass auch Menschen, die kein Spanisch können und denen ich darum einiges erzählte, beeindruckt waren.

Es ist schwierig, den besonderen Zauber und den Kern ihrer Bücher durch Inhaltsangaben zu erfassen. Sofern der erzählerische Schwerpunkt in der Realität liegt, sind unter den Handelnden Kinder mit spanischen oder deutschsprachigen Eltern (immer wenigstens zwei). Die Schauplätze: Spanien oder die Bundesrepublik, mit Ausnahme von La cabaña abandonada („Die verlassene Hütte“, ausgezeichnet mit dem Premio Amade). Diese ungemein spannende Geschichte spielt irgendwo in Afrika.

Michael und Annette, die in Deutschland wohl kaum je Freunde hätten werden können, erleben nicht nur Abenteuer und haben viel Spaß zusammen, sie entdecken ein Geheimnis: die Hütte; dann aber noch ein Geheimnis im Geheimnis: Michán. So taufen sie ihren Freund, ein Löwenbaby, das sie retten, innig lieben, pflegen, ernähren und vor allem sorgfältig vor den Erwachsenen verbergen. Bis eines Tages Michán Michael das Leben rettet.

Dieses erste Buch der Autorin ist bewusst so einfach geschrieben, dass es Kinder vom Buchstabieren zum Selbst-ein-Buch-Lesen hinführen kann; offensichtlich ein Vergnügen (die fünfte spanische Auflage ist gerade erschienen), und bei manchen wandert das Buch wie Puppen und Tiere mit ins Bett .- Ähnliches ließe sich sagen über eine Erzählung ganz anderen Inhaltes, den Quasi-Kriminalroman Una fotografía mal hecha („Ein verwackeltes Foto“).

Die danach geschriebenen Bücher gewinnen an Tiefe. Eine Dimension kommt hinzu, die in den Märchen vielleicht am deutlichsten erkennbar wird. Mercedes Neuschäfer-Carlón geht aus von gegebenen Umständen und Situationen, von traditionellen Strukturen, verlässt dann jedoch die ihnen zugehörenden Denkgleise. Zum Beispiel „Die Krokodil-Probe“ aus dem Band Tarde de cuentos („Zeit für Märchen“).

Es beginnt wie viele Märchen beginnen: Der König lädt zum Fest, er sucht einen Mann für seine jüngste Tochter. Drei Prinzen kommen. Zwei: Prinzen, wie Prinzen eben sind, viel Fassade, wenig Substanz. Der dritte, Rolando, ist anders. Mit ihm kann das Königskind, Corinna, nicht nur tanzen, sondern auch sprechen. Und damit beginnt die Unterströmung einer Veränderung, ohne dass die imaginativen Bilder die den traditionellen Märchen eigene Ausdruckskraft verlören.

Ein Jahr vergeht, der König lädt die drei Prinzen zu Zweikampf und Turnieren. Keiner unterliegt dem anderen. Corinna atmet auf: Nun endlich wird sie wählen dürfen. Doch der Vater fordert die Mutprobe auf Leben und Tod – die Krokodil-Probe. Die Tiere schwimmen im Wehrgraben. Die zu überschreitende Brücke ist ein glitschiger Baumstamm. Der erste Prinz verliert in der Mitte das Gleichgewicht, rettet sich aber schwimmend. Der zweite stolpert, stürzt schreiend und ist, als die Diener ihn herausziehen, zwar noch lebendig, aber nicht mehr ganz. Der König ruft Rolando de Montgrande – keine Antwort. Er ist verschwunden.

Skandal, Hohn für den Feigling. Ein Feigling? Aber warum holt er Corinna nicht? Warum überlässt er sie dem ersten Prinzen, der nun unerträglich übermütig wird? Ist die Prinzessin eine Sache, eine Beute, oder ist sie eine Person, die selbst entscheiden und handeln kann, ja muß?

Sie überwindet ihre Traurigkeit, als der kleine Bruder, der Kronprinz, sie versteht. Die Kinder fliehen. Während sie unter Gauklern durch das Reich des Vaters ziehen und knapp ihr Brot verdienen, erfahren sie, welches Elend es ist, sein Volk zu sein. Sie lernen sehr viel, während der Kleine zu einem ausgezeichneten Seiltänzer wird und Corinna, als Junge verkleidet, den Bären führt und immer schöner Trompete spielt.

Schließlich kommt die Gruppe in ein anderes Reich. Eine Luft und eine Erde ohne Angst, ohne Hunger. Obwohl es ein Königshaus gibt und das Schloß (ein wunderschönes Schloß): den kalten Glanz der Herrschaftsinsignien – Gold, Silber, Edelsteine – gibt es darin nicht mehr. Es sitzen dort allerdings Prinzessinen herum, die Rolando gern heiraten wollen, obwohl sie sehr erbost darüber sind, dass er sich anscheinend lieber mit dem Volk herumtreibt, als sie zu bewundern .- Tatsächlich schaut der Prinz den Gauklern zu. Ein struppiger Junge kommt mit dem Bären, der Prinz blickt auf – Corinnas Augen.

Kein Königreich, doch dem Reich Rolandos und Corinnas verwandt, ist Berland, la ciudad escondida („Berland, die verborgene Stadt“). Der zwölfjährige Carlos, Sohn spanischer Gastarbeiter, findet sie an einem ganz besonders schwarzen Tag. Er hat schon lange einen tiefen Kummer: Er wächst nicht wie die anderen. Daß sie ihn hänseln, würde er noch ertragen, aber es droht nun der Ausschluß aus seiner Fußballmannschaft. Er ist ein begeisterter und ausgezeichneter Spieler. Nur zu klein. Und viel mehr als Fußball und Fußballfreunde hat er nicht unter den Deutschen.

Heute hat er zu allem Unglück eine miserable Note in der Schultasche und würde seine Eltern am liebsten belügen. Weniger aus Angst, aber sein Vater hatte ihm gerade den Traum von einem Fußball geschenkt. Einfach so. Und Carlos weiß, dass es ein Opfer war. Mit diesem Fußball spielt er allein und unlustig herum, bis auch noch der Ball plötzlich weg ist. Er sucht verzweifelt, entdeckt ein Loch, in das sich ein magerer kleiner Junge gerade hineinzwängen kann, entdeckt eine Treppe mit winzigen Stufen, sieht den Ball und ist auch schon in einem Netz gefangen wie ein wildes Tier. Berland: weniger eine Utopie als die Imagination für ein verändertes Bewusstsein, das zu anderen Formen des Miteinanderlebens führen kann. ( Antonio en el país del silencio – „Antonio im Schweigeland“ – verlässt zum Beispiel der Junge, der in vielem ein Bruder von Carlos sein könnte, in dem Prozeß einer grundsätzlichen Veränderung seine ganz konkrete Umwelt nicht. Das Schweigeland ist die Bundesrepublik.) Und Berland ist – ebenso wie andere vorgestellte Bilder oder Welten – zugleich ein komplexer Seelenspiegel, der auch das profunde Wissen der Autorin über Kinder reflektiert.

In Berland (die Menschen dort sind willentlich klein) sagt der Lehrer zu Carlos einmal: „Nein – nein, wir sind nicht besser als ihr...Aber wir haben versucht, das zu vermeiden, was die Menschen schlechter macht.“ – Ein Schlüsselsatz. Und in dem Wort Menschen sind Kinder selbstverständlich eingeschlossen.

In den Büchern von Mercedes Neuschäfer-Carlón verhalten Kinder sich – wie Elena in dem ergreifenden Buch „Der zerstörte Bürgersteig“ – häufig gar nicht so, wie man es denkt oder sich wünschte oder wie Kinder selbst sich zu sein wünschten. Eine Tatsache, kein Maßstab, der zu Beurteilungen irgendeiner Art oder gar zu einer Verurteilung dienen könnte. Als Grundton in diesen Büchern ist hingegen das Streben nach Wahrhaftigkeit hörbar; nach einer Wahrhaftigkeit, deren Substanz auch Gerechtigkeit ist, eine derart intensive Aufrichtigkeit des Gefühls, dass vieles, nur nicht Selbstgerechtigkeit und auch kein Haß daraus erwachsen kann. Aber ein befreiendes Lachen.

(Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 25.1.1987)



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