Enrique Dans: Geteilte Aufmerksamkeit

Was symbolisiert die Zeit besser als ein Uhrwerk?
Foto: xtrapink

Enrique Dans hat auf Libertad Digital einen ganz hervorragenden Artikel über das Phänomen der geteilten Aufmerksamkeit veröffentlicht. Wir alle sehen uns immer stärker einem ständig wachsenden Informationsfluss gegenüber, wollen alles aufnehmen, müssen zwangsweise selektieren und ertappen uns doch dabei, wichtige Themen nur an der Oberfläche begleiten zu können. Kurzum: «Zu viel anzuschauen in zu wenig Zeit».

So lautet auch der Titel meiner Übersetzung des Artikels «Demasiado que ver y muy poco tiempo» zu diesem Thema. Ich habe Enrique gebeten, diesen wichtigen Text, der vor ein paar Tagen auf Libertad Digital erschienen ist, ins Deutsche übersetzen zu dürfen und ihn hier zu präsentieren. Er hat zugestimmt und ich habe mich gleich an die Arbeit gemacht.

Obwohl ich mir natürlich alle Mühe gegeben habe, diesen Artikel korrekt und unter weitestgehender Wahrung des lesenswerten Stils des spanischen Informationsexperten zu übersetzen (schließlich ist das mein Beruf), empfehle ich denen, die Spanisch können, ausdrücklich die Lektüre des spanischen Originals. Allen anderen lege ich die deutsche Übersetzung ans Herz, die gerne auch hier als PDF (2 S., 49 KB) heruntergeladen werden kann.

Ein Zitat zur Einstimmung auf den interessanten Text:

In Blogs und Zeitungen wird jeder Artikel entweder in vergleichbarer Zeit gelesen oder durch schnelles Überfliegen quergelesen, um den Inhalt gerade soweit zu erfassen, dass man mitbekommt “um was es geht”. Auf meiner Website geben Besucher oft Kommentare ab, die deutlich zeigen, dass sie den Text nicht vollständig gelesen haben, dass sie einen schnellen, oberflächlichen Blick auf den Text geworfen haben, ohne den Text in seiner Gänze zu erfassen.

Der komplette Text auf spanisch bei Libertad Digital oder hier im Blog nach dem Klick auf (Mehr…)

Zu viel anzuschauen in zu wenig Zeit

Enrique Dans
(Artikel ersch. in «Libertad Digital»; übers. aus dem Spanischen von Markus Trapp)

Wir leben in einer Zeit der informellen Hypertrophie. Inhalte strömen wie Lawinen von überall her auf uns ein, überwältigen uns, umgeben uns, wir versinken in ihnen… mit einem Klick springen wir von einer Seite der Welt auf die andere, von einer Nachricht zu einem Foto, zu einem Video, zu einem Blog, zu einem Podcast. Informationen häufen sich an in unserem Eingangsordner, in unserem Newsreader, in den Kommentaren unseres Blogs, in unseren abonnierten Feeds… sie verdoppeln sich und reagieren aufeinander, vermischen sich, verknüpfen sich und wiederholen sich: wir leben ohne Zweifel im Zeitalter der Infoxikation, der informatorischen Überdosis, des „irgendwo hab ich das doch schon mal gelesen“. Nie zuvor stand dem Menschen durch einen Klick seines Fingers auf so ein schlichtes Gerät wie eine Maus eine so überwältigende Fülle an Informationen zur Verfügung. Wir haben schlichtweg keine Zeit all jene Informationen aufzunehmen, die uns interessieren könnten: wir können weder mit soviel Information leben, noch wollen wir auf gar keinen Fall ohne diese leben.

Wie begegnen wir der informationellen Überflutung, der Informationslawine, dem Wandel unserer Gewohnheiten, der sich aus dem Konsum von Informationen so zahlreicher Art und unterschiedlicher Herkunft ergibt? Bedenken wir, dass wir mit einer Reihe von Klicks von einem Blog zu einer Zeitung, zu einem Video bei YouTube und zur Startseite von Menéame gelangen [Anmerkung des Übersetzers: meneame.net ist eine spanische Variante von digg.com]. Unsere Aufmerksamkeit wandelt sich in ein Model des zerstreuten Aufsaugens. Dieser Welle von Informationen ausgesetzt, kommt es darauf an, jeden Teil auf ein verwertbares Appetithäppchen zu reduzieren, das mit einem Bissen aufgenommen werden kann: YouTube erfordert unsere Aufmerksamkeit im Schnitt für zwei Minuten. Auf Menéame schnappen wir jede Nachricht in einigen wenigen Zeilen auf, die gleichzeitig eine Klassifizierung oder Bewertung beinhalten, die es uns ermöglichen Prioritäten zu setzen.

In Blogs und Zeitungen wird jeder Artikel entweder in vergleichbarer Zeit gelesen oder durch schnelles Überfliegen quer gelesen, um den Inhalt gerade soweit zu erfassen, dass man mitbekommt “um was es geht”. Auf meiner Website geben Besucher oft Kommentare ab, die deutlich zeigen, dass sie den Text nicht vollständig gelesen haben, dass sie einen schnellen, oberflächlichen Blick auf den Text geworfen haben, ohne den Text in seiner Gänze zu erfassen. Dies passiert vor allem bei längeren Beiträgen. Ausführlich schreiben bedeutet, sich mit einem Bruchteil der Aufmerksamkeit abfinden zu müssen. Medienproduzenten werden sich dessen immer mehr bewusst: bei einer Generation, die ihre Aufmerksamkeit mit der Pipette verteilt, müssen die Inhalte regelrecht in Pillenform dargeboten werden, sodass sie in einem spontanen Moment konsumiert werden können, während einer Wartezeit, im Taxi, im Aufzug. Mundgerechte Informations-Snacks sind hier gefragt, ein Schlückchen statt eines Glases, eine Vorspeise statt des Hauptgerichtes.

Alles leidet unter einer anhaltenden Tendenz zur Reduktion. Ein Nachrichtenüberblick wird auf wenige Minuten reduziert, wir müssen ihn in seine Einzelbestandteile zerlegen können, damit wir uns einige wenige Nachrichten aussuchen können, damit wir schnell über sie hinwegscrollen können, und damit wir sie gar auf den winzigen und unbequemen Displays unserer Handys lesen können. Ein Podcast, eine Webisode, ein Online-Spielchen, ein Twitter-Update in 140 Zeichen, das dir einen Verweis erteilt, wenn du alle 140 benutzt… dies alles im Nu, unsere Aufmerksamkeit verschlingt den Inhalt, übergibt ihn an die Fresszellen und verdaut ihn, ehe wir zum nächsten Inhalt übergehen.

Jede Möglichkeit, die uns hilft, Inhalte anhand gewisser Kriterien auszuwählen, wird gerne genutzt, manchmal mit einer Popularität, die jegliche bisher bekannte Aufmerksamkeitsdynamik übersteigt: Was macht die sozialen Filter wie Digg oder Menéame so populär? Weshalb erzeugen sie einen solch hohen Traffic? Einfach durch ihre Wechselseitigkeit: auf einen Blick können 90 % der Benutzer auf die Auswahl an Nachrichten, die gerade einmal 10 % der Benutzer durch ihre Bewertungen und Kommentare getroffen hat, zurückgreifen. Die Zahl der tumblelogs steigt ständig: Seiten, auf denen ein Nutzer eine Reihe von Nachrichten oder Themen vorstellt, die ihm aufgefallen sind, manchmal mit einem kurzen Kommentar versehen, wobei es dem Urteil des Lesers überlassen bleibt, ob er den Link anklickt oder es bei der einfachen Erwähnung belässt.

Müssen wir uns wirklich mit einem System der geteilten Aufmerksamkeit begnügen? Mit einem vollkommen oberflächlichen Informationskonsum? Mit einem unaufhaltsamen und herumwandernden Geschwätz? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, aber eine Tendenz in diese Richtung ist zu erkennen. Die kommende Generation scheint sich mehr und mehr diesem Konsumtypus anzunähern, hin zu einem Modell der Momentaufnahme, bei dem die Lektüre eines Textes von mehr als zehn Zeilen zum Querlesen verpflichtet. Sätze, die auf ein T-Shirt passen, Abkürzungen in SMS… andere Medien, andere Inhalte, andere Denkschemata um Informationen in Intervallen zwischen dreißig Sekunden und fünfzehn Minuten zu verarbeiten, mehr nicht. Mehr Zeit aufzuwenden, ein längeres Intervall zur Verfügung zu haben, wird ein echter Luxus sein. Bereiten wir uns auf ein Modell der geteilten Aufmerksamkeit vor, denn das wird das Äußerste sein, was wir erreichen können.

Das Original des Artikels von Enrique Dans
(enriquedans.com) ist am 6. Juni 2007 unter dem Titel
„Demasiado que ver y muy poco tiempo“ auf Libertad Digital erschienen.
URL: http://www.libertaddigital.com/index.php?action=desaopi&cpn=37852
Übersetzung und Verbreitung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

10 Kommentare zu „Enrique Dans: Geteilte Aufmerksamkeit“

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  5. Eigentlich ist das doch toll, wertet es doch die gute, alte Kanonbildung wieder sehr stark auf und integriert sie in unseren Alltag: Jeder arbeitet jetzt daran mit, die guten von den schlechten Inhalten zu trennen und dann die guten weiterzutwittern, bloggen, verbreiten. Und wer wiederum darin gut ist, der bestimmt, was bleibt und was sehenswert ist :).

  6. @Raventhird: Interessanter Gedanke, die Kommunikation im Web 2.0 im Einfluss auf die Kanonbildung zu sehen. Da ist in der Tat was dran. Danke für diese sinnvolle Interpretation der Netzkommunikation.

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