Festivalbericht San Sebastián 2024

Selfie vorm Spiegel im WC des Cine Principe Unglaublich: ich war dieses Jahr tatsächlich zum 29. Mal auf dem Filmfestival in San Sebastián. Nächstes Jahr steht folglich ein rundes Jubiläum an. Doch erstmal der Bericht zur diesjährigen Ausgabe des Festivals: in neun Tagen habe ich 47 Filme gesehen, darunter zwei Miniserien, fünf bis sechs Filme pro Tag. Ich sass von 8:30 Uhr bis manchmal sogar bis nach Mitternacht im Kino. Einmal war ich sogar kurz im spanischen TV zu sehen (im Hintergrund eines Interviews, das mit einer spanischen Regisseurin geführt wurde, es gibt auf Bluesky einen kurzen Videoausschnitt).

Collage mit Aufnahmen von San Sebastián Ob der Schwere der Themen bräuchte man eigentlich eine therapeutische Betreung, denn all die Filme mit meist sehr schwierigen und einem nahe gehenden Themen in so enger Abfolge zu sehen, ist gar nicht so einfach. Viele Filme – aber nicht alle – drehten sich dieses Jahr um das Thema Tod und Sterben. Dass sie dies meist auf eine sehr lebensbejahende Weise taten, ist ihnen hoch anzurechnen.

Wie immer stelle ich die zehn Filme, die mich am meisten beeindruckt haben, kurz vor. Der Titel verlinkt auf die englischsprachige Filmbeschreibung der Festivalwebsite. Die Reihenfolge stellt keine Wertung dar. Los geht’s: für mich die besten Filme aus dem diesjährigen Festival waren:

1. La guitarra flamenca de Yerai Cortés

Von Antón Álvarez, Spanien, 2024

(Es gibt noch keinen Trailer zum Film, aber einen Ausschnitt auf dem Instagram-Kanal der Produktion LittleSpain.)

Der Film begleitet den Flamenco-Gitarristen Yerai Cortés in seiner künstlerischen und persönlichen Entwicklung, während er ein Familiengeheimnis enthüllt. Ein richtig guter Musikfilm. Die Musik im Kursaal war so laut, dass man sich wie auf einem Konzert vorkam. Der Einblick in das Leben des 24-jährigen Flamenco-Musikers und das Leben seiner Familie samt Aufarbeitung der Familiengeschichte ist beeindruckend.

2. El Jockey

Von Luis Ortega, Argntinien 2024

Der vielleicht abgefahrenste Film auf dem Festival. Der Regisseur hat mich schon im Kino für sich eingenommen, als er meinte, „seine Hauptfigur verstehe manchmal nicht so recht, was um ihn herum geschehe. Aber geht es uns nicht allen so im Leben?“ Die Handlung: Remo Manfredini ist ein legendärer Jockey, aber sein selbstzerstörerisches Verhalten beginnt, sein Talent in den Schatten zu stellen und seine Beziehung zu seiner Freundin Abril zu gefährden. Am Tag des wichtigsten Rennens seiner Karriere, das ihn von seinen Schulden bei seiner Mafiabossin Sirena befreien soll, hat er einen schweren Unfall, verschwindet aus dem Krankenhaus und irrt durch die Straßen von Buenos Aires. Befreit von seiner Identität, beginnt er zu entdecken, wer er wirklich sein soll. Aber Sirena will ihn finden, tot oder lebendig. Der Film wurde mit dem Premio Horizontes als bester lateinamerikanischer Film des Festivals ausgezeichnet.

3. Quand vient l’automne

Von François Ozon, Frankreich, 2024

Michelle, eine vorbildliche Großmutter, genießt ihren Ruhestand in einem burgundischen Dorf, in der Nähe ihrer besten Freundin Marie-Claude. Am Allerheiligentag kommt ihre Tochter Valérie, um ihren Enkel Lucas für die Schulferienwoche abzuholen. Doch nichts läuft nach Plan. Ein typischer Ozon, und doch wieder mit neuen Facetten. Sehenswert. Getragen von der Hauptdarstellerin Hélène Vincent, und mit dem für die beste Nebenrolle auf dem Festival ausgezeichneten Pierre Lottin, der geichzeitig auch die Hauptrolle in dem französischen Film „En Fanfare“ gespielt hat, der den Publikumspreis auf dem Festival gewonnen hat.

4. Min evige sommer

Von Sylvia Le Fanu, Dänemark, 2024

Die fünfzehnjährige Fanny und ihre Eltern ziehen sich in ihr Sommerhaus zurück, wo sie vertraute Routinen pflegen: Lesen, Schwimmen und Spazierengehen. Unter der ruhigen Einfachheit liegt ein unausgesprochener Kummer – sie wissen, dass es der letzte Sommer ihrer Mutter sein wird. Während sie versuchen, die Tage zu nutzen, die ihnen noch bleiben, muss die Familie das empfindliche Gleichgewicht zwischen der Wertschätzung der Gegenwart und dem, was kommen wird, finden. Ein Film, der einem nahe geht und den man so schnell nicht vergisst. Erst recht, wenn man schon einmal den Tod eins Elternteils miterleben musste.

5. Le dernier souffle

Von Costa-Gavras, Frankreich, 2024

Der 91-jährige griechische Regisseur hat mich überrascht. Oft sind ja die späten Filme von Altmeistern nicht die besten, doch dieser ist sehr gut. Die Handlung: In einer Art philosophischem Dialog diskutieren der Arzt Augustin Masset und der bekannte Schriftsteller Fabrice Toussaint über Leben und Tod… Ein Wirbelwind von Begegnungen, bei denen der Arzt der Führer und der Schriftsteller sein Passagier ist, der sich mit seinen eigenen Ängsten und Befürchtungen auseinandersetzen muss… Ein poetisches Ballett, in dem jeder Patient ein Füllhorn an Emotionen, Lachen und Tränen ist… Eine Reise zum pochenden Herzen unseres Lebens. Mit fantastischer Besetzung bis in die Nebenrollen, zum Beispiel mit den wunderbaren Schauspielgrößen Charlotte Rampling oder Angela Molina. Und großartig in der Rolle des Arztes: Kad Merad.

6. Sujo

Von Astrid Rondero und Fernanda Valadez, Mexiko, 2024

Hätte ich den Premio Horizontes für den besten lateinamerikanischen Film des Festivals vergeben dürfen, hätte „Sujo“ ihn bekommen. Nach der Ermordung eines bewaffneten Kartellmitglieds in einer mexikanischen Kleinstadt ist Sujo, dessen geliebter vierjähriger Sohn, als Waise in Gefahr. Sujo entgeht dem Tod nur knapp mit Hilfe seiner Tante, die ihn in der abgelegenen ländlichen Gegend inmitten von Not, Armut und der ständigen Gefahr, die mit seiner Identität verbunden ist, aufzieht. Als er ins Teenageralter kommt, erwacht in ihm ein rebellischer Geist, und wie ein Übergangsritus schließt er sich dem örtlichen Kartell an. Als junger Mann versucht Sujo, sich ein neues Leben aufzubauen, weg von der Gewalt in seiner Heimatstadt. Doch als das Erbe seines Vaters ihn einholt, wird er mit dem konfrontiert, was sein Schicksal zu sein scheint. Sehr bewegend, leider sehr nah an der brutalen Realität Mexikos.

7. La habitación de al lado

Von Pedro Almodóvar, Spanien, 2024

Ingrid und Martha waren in ihrer Jugend eng befreundet. Sie arbeiteten zusammen bei der gleichen Zeitschrift, aber Ingrid wurde Schriftstellerin und Martha Kriegsreporterin, und die Lebensumstände trennten sie. Nachdem sie sich jahrelang nicht mehr gesehen haben, treffen sie sich in einer extremen und sehr persönlichen Situation wieder. Der neueste Almodóvar gehört zu den Festival-Filmen um das Thema Tod und Sterben. Er tut es, wie eingangs geschildert, auf eine sehr lebensbejahende Weise. Almodóvar hat berichtet, dass es eine große Freude war, den beiden herausragenden Schauspielerinnen Tilda Swinton und Julianne Moore beim Drehen dabei zuzuschauen, wie sie die Figuren des Drehbuchs mit Leben füllen. Zurecht auch Anfang September in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Der letzte spanische Regisseur, dem das gelungen war, ist 1967 Luis Buñuel gewesen mit „Belle de Jour“.

8. Yo, adicto

Von Javier Giner, Spanien, 2024

Die Mini-Serie „Yo adicto“ ist das Beste, was ich auf dem diesjährigen Festival gesehen habe. Sechs Folgen, vier Stunden, schwere Kost, aber unfassbar gut gespielt von Oriol Pla in der Hauptrolle, dazu in den weiteren Rollen brillant besetzt. „Yo adicto“ erzählt, wie Javier Giner, ein Fachmann für audiovisuelle Medien, im Alter von 30 Jahren aus freien Stücken beschließt, sich in eine Entzugsklinik zu begeben. In der Tiefe seiner Finsternis treibt ihn ein verzweifelter Überlebensinstinkt dazu, professionelle Hilfe zu suchen. Ohne es zu wissen, wird diese Geste sein Leben verändern und ihn zu einem neuen Menschen machen. Man kann nur hoffen, dass Disney+ sich noch entscheidet, sie auch außerhalb von Spanien verfügbar zu machen, damit man sie zum Beispiel auch in Deutschland sehen kann.

9. Ramón y Ramón

Von Salvador Del Solar, Peru, 2024

Filmplakat Ramón y Ramón Leider gibt es noch keinen Trailer (werde ihn nachtragen, sobald online), auf der Festivalwebsite gibt’s ein Gespräch mit dem Regisseur Salvador Del Solar und dem Co-Drehbuchautor Héctor Gálvez.

Nachdem er die Asche seines Vaters erhalten hat, zu dem er nur eine entfernte Beziehung hatte, trifft Ramón während des Corona-Einschlusses auf Mateo. Trotz ihrer Unterschiede entsteht zwischen ihnen eine tiefe Verbindung, die sie dazu bringt, sich selbst zu hinterfragen. Mateo beschließt, Ramón auf der Reise zu begleiten, um die Asche in Huancayo zu verstreuen. Auf dem Weg dorthin wird Ramón erkennen, dass er nach Antworten auf die falschen Fragen gesucht hat und dass er von innen heraus heilen muss, um weiterzukommen.

10. Querer

Von Alauda Ruiz de Azúa, Spanien, 2024

Auch die zweite Serie, die ich auf dem Festival gesehen habe, hat sich sehr gelohnt. Und das, wo ich zunächst gar keine Serien schauen wollte, weil es ja schon so viele Filme zu entdecken gibt. Im Nachhinein habe ich es nicht bereut, mir innerhalb des Film-Marathons auch noch zwei Serien „anzutun“. Und beide Serien haben es sogar auch in meine TOP-10 geschafft. Die 4-teilige Miniserie „Querer“, produziert von Movistar, mit einer Gesamtdauer von 212 Minuten behandelt folgendes sehr schwieriges Thema: Nach 30 Jahren Ehe und zwei Kindern verlässt Miren das Haus der Familie und zeigt ihren Mann wegen fortgesetzter Vergewaltigung an. Diese schwerwiegende Anschuldigung zwingt die Kinder dazu, zwischen dem Glauben an ihre Mutter und der Unterstützung des Vaters, der seine Unschuld beteuert, zu wählen. Eine familiäre Odyssee, die parallel zu einem Gerichtsprozess mit demselben Ziel verläuft: die Wahrheit zu finden.

Das waren meine zehn besten Filme von San Sebastián 2024. Wie gesagt: alles schwierige Themen, aber allesamt sehr gute Umsetzungen, von denen man nur hoffen kann, dass möglichst viele auch dem deutschen Publikum zugänglich sein werden, sei es (und hoffentlich) im Kino, im TV oder bei Streamingdiensten. Dieser Bericht endet mit einem Blick auf den Vorhang und die Decke meines Lieblingskinos in Donosti, das Teatro Vicoria Eugenia:

Teatro Vicoria Eugenia

4 Kommentare zu „Festivalbericht San Sebastián 2024“

  1. Gracias por las recomendaciones, Markus.
    Se ven muy buenas películas y series y, como dices, un poco pesadas. Admiro que puedas verlas seguido.
    Saludos

    1. Gracias Sofía por tu comentario. La verdad es que no se puede hacer justicia a las películas si se ven cinco al día. Pero después vuelvo a ver las buenas películas, ya sea en el cine o en la televisión.

  2. Pablo de Castro

    Gracias Markus, siempre un placer leer tus resúmenes y me alegro que pudiéramos encontrar tiempo para una cerveza pese a las cinco o seis proyecciones diarias. Un par de menciones adicionales a pelis que uno encontró impresionantes:
    – Ainda estou aqui (Walter Salles, Brasil)
    – Pepe (Nelson C de los Santos Arias, República Dominicana)
    – Apocalipsi nos trópicos (Petra Costa, Brasil)
    No sé si el hecho de haberse proyectado en otros festivales excluye las pelis de tu top-10 (Ainda ganó mejor guión en Venecia y Pepe mejor dirección en Berlín), pero la presencia de “The room next door” sugiere que se admiten pelis previamente mostradas en otros certámenes.
    Bastantes de las que has seleccionado no pude verlas (no todos estamos por 5/6 pelis al día 😉 ) pero quedan apuntadas para cuando haya ocasión…
    Un abrazo, Pablo
    PS. ¿Has visto “Calladita”? Estupenda peli! (no estuvo en Donosti, creo)
    https://edinburghspanishfilmfestival.com/films/the-quiet-maid-screening-with-descriptive-subtitles/

    1. Gracias por tu comentario, Pablo. Y perdón por la respuesta tarde.

      Yo también me alegro que nos encontramos en Donosti. En mis reportajes también incluyo películas que se estrenaron en otro festivales. A „Pepe“ lo mencioné al final de mi reportaje sobre la Berlinale: https://textundblog.de/?p=10680
      A mi también me impresionó mucho „Apocalipsi nos trópicos“ (el hecho de que no sale en mi personal TOP 10, no significa que no sea una buena película).
      „Calladita“ no conozco, pero lo voy a ver en Filmin: https://www.filmin.es/corto/calladita

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