Festivalbericht Berlinale 2023

Endlich wieder auf der Berlinale gewesen. Nach drei Jahren (zuletzt 2020) wieder kreuz und quer in den Kinos der Hauptstadt unterwegs gewesen. Zum ersten Mal in den Genuss des Online-Ticketing gekommen (endlich!). Was für eine Erleichterung. Statt ab 7:15 Uhr am Potsdammer Platz in der Kälte für Karten anzustehen, gemütlich um 7 Uhr in der Online-Warteschlange zehn Minuten warten und dann mit flinken Fingern die Tickets ordern. Habe Tickets für alle Filme bekommen, die ich sehen wollte. Großes Lob an die Festivalorga. Von vor Ort habe ich täglich kurze Impressionen getwittert. Habe 39 Filme in neun Tagen gesehen. Das muss in so kurzer Folge alles erstmal verarbeitet werden. Das habe ich mittlerweile getan und stelle hier in gewohnter Manier die für mich zehn besten Filme kurz vor (der Titel verlinkt jeweils in den Berlinale-Katalog), die Reihenfolge stellt keine Wertung dar:

El eco

von Tatiana Huezo (Mexiko 2023)

Der Dokumentarfilm der mexikanisch-salvadorianischen Filmemacherin Tatiana Huezo, der auf der Berlinale in der Sektion “Encounters” gezeigt wurde, war für mich einer der besten Filme des Festivals. Gezeigt wird das einfache Leben auf dem Land in einer kleinen Gemeinde in Puebla. Im Mittelpunkt stehen drei Familien, die Perspektive der Kinder steht dabei im Fokus. Wie pflegen sie die Alten, wie bearbeiten sie das Land, wie leben und arbeiten sie mit den Tieren. In ruhigen Bildern von faszinierender Schönheit wird Einblick in den Alltag von El Eco (so heißt das Dorf, zu deutsch: das Echo) gegeben. Vollkommen zurecht wurde der Film mit gleich mehreren Preisen ausgezeichnet: BESTE REGIE Encounters und dem BERLINALE DOKUMENTARFILMPREIS.

Sonne und Beton

von David Wnendt (Deutschland 2023)

Bei diesem Film nach dem gleichnamigen Roman von Felix Lobrecht hatte ich schlimmsten Sozial-Kitsch befürchtet: die armen marginalisierten Kinder aus Berlin, Neukölln, deren Leben schon vorgezeichnet ist. Doch dann hat mich der gut durchkomponierte Film doch überrascht. Auch wenn die ein oder andere Figur sehr klischeehaft ist, allen voran der eigentlich großartige Schauspieler Jörg Hartmann in der Rolle des überforderten Vaters Matthias (Lebensmotto: “Der Klügere gibt nach”), nimmt man den Figuren das Erlebte ab. Die titelgebende in Beton eingepferchte Hitze im Sommer wird spürbar, das Dilemma der Heranwachsenden mit der Gewaltspirale nachempfindbar. Sehenswerte Unterhaltung, die nachdenklich macht, und den Zuschauenden die Frage stellt, wie man aus einem solchen Milieu unbeschadet herauskommen könnte. Kinostart heute: 2. März 2023.

Sur l‘Adamant

von Nicolas Philibert (Frankreich 2022)

Etwas überraschend ist der Goldene Bär für den Dokumentarfilm von Nicolas Philibert. Aber nicht unverdient. Gezeigt wird eine Tagesklinik für Menschen mit psychischen Problemen auf dem Schiff Adamant auf der Seine. Sie bekommen dort Unterstützung zur Orientierung im Alltag, beschäftigen sich mit Kunst – Musik, Tanz, Malerei – und berichten vor der Kamera, was ihnen durch den Kopf geht. Philibert gelingt es, all dies zu zeigen, ohne die Patienten vorzuführen.

Tótem

von Lila Avilés (Mexiko 2023)

Bitte nicht vom – wie ich finde wenig gelungenen – Trailer abschrecken lassen. Dieser Film ist besser als es die paar Sekunden zeigen können. Der Inhalt wird im Katalog gut beschrieben:

Der Maler und junge Vater Tona hat Geburtstag, und da es wohl sein letzter ist, wird zugleich Abschied gefeiert. Entsprechend hat auch der Film zwei Seelen: Hinter der Hektik und Spontaneität beim Vorbereiten und Feiern tut sich jene archaisch-spirituelle Tiefendimension auf, die im Titel anklingt. Tonas geschwächter Körper bleibt zunächst unsichtbar. Im schützenden Zimmer sammelt er Kraft für die Zeremonie, bei der er die ganze Liebe und Zuneigung erfährt, die er für seine letzte Reise braucht.

Was Lila Avilés in ihrem zweiten Kinofilm daraus macht, ist sehenswert. Beachtlich, die darstellerische Leistung der erst zehnjährigen Naíma Sentíes in der Rolle der Tochter Sol.

El castillo

von Martín Benchimol (Argentinien 2022)

Zum Glück ist das spanischsprachige Kino auf der Berlinale immer stark vertreten, und ich versuche ja auch immer so viel wie möglich spanischsprachiges Kino zu schauen. Diesen argentinischen Film aus dem Panorama hab ich sehr gemocht. Auch wegen der Umstände, unter denen er entstanden ist. Wie Regisseur Martín Benchimol im Q&A nach dem Film erzählt hat, ist er auf dieses abgelegene Schlösschen (“Castillo”) während Dreharbeiten zu einem anderen Film gestoßen. Die dort arbeitende Frau hat er nach den Besitzern gefragt, weil er natürlich sofort die Qualitäten dieses alten Hauses, dessen bessere Zeiten wohl lange zurückliegen, erkannt hat. Nachdem die Frau sich als Besitzerin zu erkennen gab, hat er sich über einen längeren Zeitraum mit ihr unterhalten und es ist der Gedanke herangewachsen, einen Film daraus zu machen. Sie hat als Kind dort schon gearbeitet und nie in ihrem Leben einen Lohn dafür bekommen. Als die Besitzerin starb, hat sie ihr das Haus und das Grundstück vererbt. Ein später Lebenslohn quasi. Justina lebt dort mit ihrer Tochter Alexia und die beiden Frauen spielen sich selbst. So schräg wie faszinierend, so anrührend wie betroffen machend. Gute soziales Kino aus Argentinien. Wer diesen Film sieht, vergisst ihn so schnell nicht mehr.

20.000 especies de abejas

von Estibaliz Urresola Solaguren (Spanien 2023)

Dieser Film hätte genau so gut den Golden Bären bekommen können (vielleicht hat die Jury sich nicht getraut, ihn zwei Mal hintereinander an einen spanischen Film zu vergeben). Wieder geht es um die Perspektive eines Kindes, hier den achtjährigen Aitor, der sich in seiner Haut als Junge nicht wohl fühlt und lieber ein Mädchen wäre, und lieber Lucía genannt werden möchte. So wie ihm die bienenzüchtende Großtante erzählt, dass es 20.000 Arten von Bienen gibt, ist die geschlechtliche Identität nicht auf die beiden Extreme männlich und weiblich eingrenzbar. Die Verunsicherung der Protagonistin und die der Frauen in ihrem Umfeld, steht im Mittelpunkt dieses einfühlsamen Filmes. Die erst neunjährige Sofía Otero wurde auf der Berlinale als beste Darstellerin mit dem Golden Bären geehrt. Als jüngste Schauspielerin jemals in den bis dato 73 Ausgaben des Festivals. Sie mit Ana Torrent (dem Mädchen aus Carlos Sauras Cría Cuervos) zu vergleichen, wie die spanische Zeitung El Mundo das tut, ist zu viel Bürde für das offensichtlich darstellerisch hoch begabte Mädchen. Aber ihre Darstellung von Aitor/Lucía ist wirklich phänomenal und falls sie sich für den Schauspielweg entscheiden sollte, bleibt ihr nur zu wünschen, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird.

Roter Himmel

von Christian Petzold (Deutschland 2023)

Mein deutscher Lieblingsregisseur Christian Petzold hat – wieder einmal! – geliefert. Was für ein wunderbarer Film. Vollkommen zurecht mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Zwei Freunde fahren in ein Ferienhaus, um dort zu arbeiten. Dort treffen sie auf eine unerwartete weitere Mitbewohnerin und deren Liebhaber. Was sich aus den vier Personen entwickelt, ist mehr als eine Sommerkomödie. Es geht vordergründig um die Schaffenskrise eines Schriftstellers, doch eigentlich um Freundschaft, Liebe mit all ihrer körperlichen Intensität und nicht vorhandene bzw. spät eingestandene Aufrichtigkeit. Von Thomas Schubert in der Rolle des Schriftstellers Leon und Paula Beer in der Rolle der Nadja brilliant gespielt. Die Gruppe THE WALLNERS liefert mit ihrem Song IN MY MIND einen Soundtrack mit Ohrwurmqualität. Kinostart: 20. April 2023.

Das Lehrerzimmer

von Ilker Çatak (Deutschland 2023)

Während des Festivals hab ich von mehreren Seiten gehört, ich solle mir unbedingt “Das Lehrerzimmer” ansehen. Und das war ein guter Tipp. Dass es Lehrpersonal in Schulen nicht einfach hat, ist keine Neuigkeit. Doch was hier gezeigt wird, hat Thriller-Qualitäten. Es geht um eine sichtlich engagierte Lehrerin, der die Kontrolle über das Geschehen im Klassen- und Lehrerzimmer zu entgleiten droht. Bravoröus gespielt von Leonie Benesch, die bei der Vorführung im Titania Kino in Steglitz war – einem der neuen Spielorte der diesjährigen Berlinale -, genauso wie der beeindruckende Darsteller des kleinen Oskar, Leonard Stettnisch (Sohn des einen der Lehrer spielenden Michael Klammer). Regisseur Ilker Çatak hat das Drehbuch gemeinsam mit Johannes Duncker geschrieben. Beide haben lange und ausführlich für den Fim recherchiert. Das merkt man dem stimmigen und mitreißenden Film auch an. Sehenswert.

BlackBerry

von Matt Johnson (Kanada 2023)

Leider gibt es noch keinen Trailer zum Film. Hier ein kurzer Ausschnitt aus der Pressekonferenz mit Regisseur Matt Johnson:

Gut gemachte kanadische Komödie, in der es um den Kampf der Firmen geht, wer als erster den Computer ins Handy bringt. BlackBerry hatte ihn zunächst gewonnen. Dass es dann anders kam, wissen wir alle. Nichtsdestotrotz ist es spannend und lustig zu sehen, wie der Smartphone-Krieg ausgetragen wird und welch weitreichende Folgen die mobilen Endgeräte bis heute für uns haben.

Joan Baez I Am A Noise

von Karen O’Connor, Miri Navasky, Maeve O’Boyle (USA 2023)

Leider gibt es noch keinen Trailer zu dem Film, dafür hier ein kurzer Ausschnitt aus dem Gesang von Joan Baez im Anschluss an die Uraufführung im Kino International:

Natürlich hatte ich mich gefreut Joan Baez (82) bei der Weltpremiere des Filmes über ihr Leben zu sehen. Dass sie kommen würde, hatte ich Tage zuvor auf ihrem Twitter-Account gelesen. Und wer könnte besser etwas dazu sagen, wie es dazu kam, dass sie ihre Freundin Karen O’connor und letztlich über den Film uns alle so nahe an sich rankommen lässt, als Joan Baez selbst. Hier erzählt sie darüber nach dem zweiten Screening im Cubix, dass sie diesen Film nur mit einem Menschen machen könnte, dem sie absolut vertraut:

Das Vertrauen wurde belohnt. Es ist ein sehr sehenswerter Film jenseits der gewöhnlichen Biopics entstanden. Keine Selbst- oder Fremdbeweihräucherung, sondern eine äußerst persönliche Dokumentation anhand des privaten Familienarchivs, dass die Regisseurinnen und das Team behutsam und gemeinsam mit der bezaubernden Sängerin vor unseren Augen entfalten.

Spreeblick

11 Kommentare zu „Festivalbericht Berlinale 2023“

  1. Gracias, Markus.
    Siempre tomo como referente tus análisis de películas. Son muy buenos y no sesgados..

    Saludos

  2. Endlich wieder Berlinale-Auslese von Markus!!!!! Tausend Dank für den Bericht, der uns von deiner Reise durchs Festival erzählt und ein Streiflicht auf den diesjährigen Filmjahrgang wirft
    Ich hatte ja schon vorab das ein oder andere von dir erfahren – und bedauere immer noch sehr, dass die Kupferkabeldiebe verhindert haben, dass wir uns im Kino International treffen:-( Immerhin war es an dem Tag sonnig und mild und der Aufenthalt in Büchen erträglich
    Ich bedauere übrigens den reinen online Verkauf – ich habe die echten Tickets mit den kleinen goldenen Bärchen wirklich GELIEBT und sie haben es immer Ende des Jahres in mein wofür-bin-ich-dankbar-Poster geschafft. Nun gut, der Fortschritt
    Allerdings: für Tickets als Normalesterbliche muss ich um 10 Uhr online sein und dann kann ich an dem Tag grad nicht in einem Film sitzen – ich war ja nur 3 Tage da und hatte das Problem nicht, aber Mittwoch fing mein erster Film um 9:30 Uhr an – da hätte ich keine Tickets für Samstag kaufen können.
    Und wenn ich 2 Filme angeclickt hatte, war beim dritten schon alles ausverkauft. Also ich fand es nicht nur positiv

    Ich hatte fast alle der Filme, die du vorstellst, auf dem eigenen Zettel – aber Berlinale ist ja wie Tetris spielen und wenn man nur 3 Tage da ist, laufen manche Filme eben gar nicht oder sehr spät (für eine Lärche) oder sind eben schon ausgebucht…

    Immerhin eine Übereinstimmung (20.000 mil abejas) und große Vorfreude auf einige der Filme, die auf jeden Fall ins Kino kommen
    Heute sehe ich schon mal SONNE UND BETON
    DAS LEHRERZIMMER kommt übrigens am 4.5.23 in die Kinos. Vielleicht lohnt es sich auch zu erwähnen, dass Leonie Benesch bei den European Shooting Stars 2023 dabei war.
    ROTER HIMMEL will ich natürlich auch schnellstmöglich sehen, auch wenn der Kinostart auf einem unschönen Datum liegt
    EL ECO wird dank seiner Auszeichnungen sicher in die Programmkinos kommen, Vorfreude. Ebenso der Preisträger des Goldenen Bären und ich hoffe sehr, dass EL CASTILLO und TOTEM auch nach Lübeck kommen (zur Not fahre ich ja auch mal nach HH).
    Und – last but not least – JOAN BAEZ möchte ich unbedingt sehen und BLACKBERRY am besten auch noch

    Das wären dann 10 plus 6 Berlinalefilme für 2023 – bin gespannt, wie viele es werden 🙂

    Danke nochmals und bis hoffentlich bald mal wieder live und in Farbe

    1. Liebe Carmen, danke für Deinen ausführlichen Kommentar. Und das durch die Zugverspätung verpasste Livetreffen holen wir demnächst nach (vllt. wenn einer der erwähnten Filme auf Deinem Programm nur in Hamburg und nicht in Lübeck läuft). 😉

      1. Kurzes Update: ich war sehr froh, dass ich SONNE UND BETON um 14 Uhr und in Begleitung gesehen habe. Das waren schon sehr eindringliche Bilder, die mir immer noch nicht ganz aus dem Kopf gehen…

        1. Ich mal wieder… mittlerweile habe ich auch die sehr sehenswerten ROTER HIMMEL und DAS LEHRERZIMMER gesehen und hole somit in Lübeck ein Stück Berlinale nach…
          Falls du von den anderen von dir vorgestellten Filmen hörst, dass sie in HH laufen, würde ich mich sehr über eine persönliche Info (Telegram?) freuen, ich befürchte, dass sie nicht (alle) in HL gezeigt werden. Und vielleicht kann ich dann Deutschlandticket auch ganz unbeschwert von Hansestadt zu Hansestadt reisen. Dankeschön

          1. Wieder ein kleines Update – gestern wurde in Lübeck 2 Tage vor der Deutschlandpremiere der Gewinnerfilm des Goldenen Bären gezeigt. Ich war schwer beeindruckt davon, wie nah das Team an den Menschen dran war und ganz besonders von dem Konzept dieser Tagesklinik (ich kenne das etwas anders). Irgendwie auch ein politischer Film (das “wie lange noch?” am Ende). Die Doku hatte auch ihre komischen Momente und viele “schöne Bilder”

            So, nun bin ich bei 5 von 10. Für die anderen habe ich wenig Hoffnung, sie in Lübeck sehen zu können

            Et voilà, lange lebe der Festivalbericht!

          2. Carmen, das freut mich sehr. 5 von 10 ist doch eine super Quote. Habe gerade heute mein Programm für San Sebastián gemacht (nächste Woche Freitag geht‘s los), dort laufen auch 4 der hier vorgestellten Filme (die hab ich mir gespart und 50 weitere ausgewählt).

          3. Oh, wie schön. Da freu ich mich schon auf den nächsten Festivalbericht! Und die Fotos von Sonne & Meer… Bin gespannt, was du in deinem Filmekoffer mitbringst
            (5/10 plus die Filme, die ich im Feb in B gesehen habe:-)

  3. Heute habe ich TOTEM gesehen. Bin noch etwas in mich gekehrt… Nochmals DANK für den Bericht, ist wie ein Kompass durch das Kinojahr…

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