Festivalbericht 2015: Zehn Film-Tipps von meiner 20. Berlinale

Sonycenter am Potsdamer Platz während der Berlinale 2015

Mein Berlinale-Bericht – wie immer mit einer Woche Abstand zum Gesehenen. So viel Zeit brauche ich zur Verarbeitung der 47 Filme, die ich in 9 Tagen in viel zu kurzer Abfolge gesehen habe. Dies vorneweg: es war bis dato einer der besten Filmjahrgänge. Hab viel Gutes – und vor allem überraschend wenig Schlechtes – gesehen. Dies sind die zehn Filme, die mich am meisten beeindruckt haben (die Inhaltsbeschreibung aus dem Berlinale-Katalog ist wie immer im Titel verlinkt):

1. Taxi von Jafar Panahi

Es war keine große Leistung diesen Film als Sieger der Berlinale vorauszusagen. Aber der Goldene Bär für den im Iran mit Drehverbot belegten Regisseur Jafar Panahi war kein politisches Zugeständnis. Der Film ist wirklich gut und ein auch filmisch gesehen verdienter Sieger. So klug konzipiert. Mit dieser einfachen Idee – ein Taxifahrer fährt durch Teheran, es steigen Gäste ein, in deren Leben man einen Einblick erfährt, und das auch schon in den wenigen Minuten im Taxi. Und der Fahrer ist der Regisseur selbst. Ein Ausschnitt:


2. 600 Millas von Gabriel Ripstein

Die Auswahl der Filme in diesem Bericht hat nichts mit ihrer Prämierung zu tun. Aber wenn von mir bevorzugte Filme von den unterschiedlichen Berlinale-Jurys auch mit Preisen bedacht werden, freut mich das natürlich. Und der mexiknaische Film «600 Millas» von Gabriel Ripstein hat den Preis für den besten Nachwuchsfilm bekommen. Es geht um eine Geschichte, in der zwei sehr unterschiedliche Menschen in einer bedrohlichen Situation stecken. Einer davon wird gespielt von Routinier Tim Roth. Ein mittelalter us-amerikanischer Polizist und ein junger mexikanischer Waffenschmuggler. Die titelgebenden 600 Meilen werden zurückgelegt zwischen Arizona und Culiacan in Mexiko. Mich hat der dokumentarische Charakter und die extrem realistische Kameraarbeit (die Ripstein auch wichtig war, wie er in diesem Interview erklärt) beeindruckt.

3. B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin von Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck, Heiko Lange

Dass West-Berlin in den Achtzigern ein Hotspot der Subkultur war, ist hinlänglich bekannt. In eindringlichen Bildern und großartigen zeitgenössischen Musikausschnitten zeigt das die Panorama-Doku «B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin». Ein 90-minütiges Musik-Video als Zeitmaschine zurück in die Achtziger in West-Berlin. Hoffe sehr, dass der Film es nicht nur in die Programmkinos Berlin schaffen wird. Unbedingt anschauen, wenn ihr könnt.

4. Cobain: Montage of Heck von Brett Morgen

Brett Morgan hat acht Jahre an diesem Film gearbeitet. Zusammen mit seiner Familie (Eltern & Schwester) und mit Courtney Love. Es ist ein besonders eindringliches Filmdokument dabei heraus gekommen, der mir das Betrachten des nächsten Filmes direkt danach sehr schwer gemacht hat. Einbebunden sind private Videos, auch aus der Kindheit von Kurt. Den vierjährigen Luftgitarre spielen zu sehen, hat ja noch was rührendes. Die späteren Aufnahmen gehen einem aber sehr viel näher. Eingebunden sind auch die Tagebücher von Kurt Cobain. Seine Zeichnungen wurde für den Film animiert, von ihm geschriebene Text in seiner Handschrift gezeigt, von ihm besprochene Audiokassetten über das Bildmaterial gelegt, so dass der Eindruck entsteht, Cobain spreche zum Zuschauer. Leider gibt es noch keinen Trailer zum Film. Wenn er ins Kino kommt: unbedingt anschauen. Eine Empfehlung, die nicht nur für Nirwana-Fans gilt. ich bin zum Beispiel keiner und doch hat mich der Film sehr mitgenommen.

Cobain: Montage of Heck

5. Chorus von François Delisle

Es war schon einiges an harter Kost dabei, was man so komprimiert im Rahmen eines Festivals nur schwer verarbeiten kann. Dazu gehört auch das kanadische Drama «Chorus», in dem ein inzwischen getrennt lebendes Ehepaar zehn Jahre nach dem Verschwinden ihres achtjährigen Sohnes Hugo mit der grausamen Realität des Kindesmissbrauchs konfrontiert wird. Die Szene, in der dem Paar das detaillierte Geständnis-Video des Täters, der sich inzwischen in der Haft umgebracht hat, vorgespielt wird, ist nur schwer zu ertragen, so gut ist das gespielt. Ein schier unfassbares Drama wird hier in bewusst inszenierten Schwarz-Weiß-Bildern gezeigt, die vom großartigen Spiel von Fanny Mallette und Sébastien Ricard getragen werden. Sehr starker Film, sehr hartes Thema.

6. El Club von Pablo Larraín

Wo wir bei harten Themen sind: Auch in «El Club» des Chilenen Pablo Larraín (2008 hat er den großartigen «Tony Manero» gedreht) geht es um Missbrauch. Dieses Mal um den durch Kirchenvertreter. Eine Gruppe straffällig gewordener Priester wird mit einem ihrer Missbrauchsopfer konfrontiert. Der Film, der mit einem klugen Ende aufwartet, wurde vollkommen zurecht mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Leider gibt’s noch keinen Trailer, aber ein Berlinale-Bericht mit Filmausschnitten:

7. Mot Naturen von Ole Giæver

Jedes gute Festival hat auch kleine Film-Juwele zu bieten. Das Juwel der Berlinale, die besondere Entdeckung eines gefilmten Kleinods hat der Norweger Ole Giæver mit seinem wunderbar natürlichen Film »Out of nature». Der von Ole dargestellte Charakter Martin (Mitte Dreißig) ist an einem Punkt im Leben angekommen, an dem er spürt, dass sich was verändern muss. Eigentlich ist er glücklich. Er ist verheiratet, hat einem kleinen Sohn und eine sichere Arbeit. Aber ausgefüllt ist er irgendwie nicht. So beschließt er, zum nachdenken und sich klar werden über seine Situation alleine ein Wochenende in die berge wandern zu gehen. Ratsuchen out of nature. Ein Satz aus der Filmkritik von Martin Gobbin beschreibt die norwegische Dokumentation ganz gut: «Ole Giævers Penis erhält fast genauso viel Screen Time wie die titelgebende Natur.». In der Diskussion im Kino darauf angesprochen, ob es dem Regisseur und Hauptdarsteller nicht peinlich gewesen sei in der Hälfte des Films nackt zu sehen zu sein, antwortete er schlagfertig, dass er damit kein Problem habe, denn das sei ja nicht er, sondern der von ihm dargestellte Charakter Martin, der da ab und an seinen Schwanz und seinen Hintern zeigen würde. 😉

8. Eisenstein in Guanajuato von Peter Greenaway

Zu diesem Film gibt es nur zwei Dinge zu sagen: Peter Greenaway ist wieder da. Seine letzten Filme waren allesamt enttäuschend, doch hier ist er wieder ganz der alte. Der Meister der opulent in Szene gesetzten Bilder erzählt in seinem ganz eigenen Stil die zeit des russischen Meisterregisseurs in Mexiko. Und was für ein Hauptdarsteller: faszinierend, wie Elmar Bäck (1981, Finnland) Eisenstein verkörpert. Also, wer Greenaway – so wie ich – schon abgeschrieben hat, sollte wieder ins Kino gehen, um ihn – und die großartige Leistung von Elmar Bäck – zu sehen:

9. What Happened, Miss Simone? von Liz Garbus

Der Dokumentarfilmerin Liz Garbus kann man nur dankbar sein, dass sie mit Unterstützung der Tochter Nina Simones diesen Film gemacht hat. Ich habe außer ein paar Songs (z.B. Don’t Let Me Be Misunderstood oder Ain’t Got No, I Got Life) kaum etwas gewusst über diese Frau, die ein so beachtliches wie bedauernswertes Leben geführt hat. Wenn man sieht, wie ihre Karriere den Bach runter ging und sie bis zur Obdachlosigkeit in Paris abgesackt war und dann wieder mit Hilfe eines Freundes auf die Beine kam, um die Karriere noch einmal aufzunehmen, geht das genauso ans Herz wie die bekannten Lieder der Sängerin. Die Doku, die ich euch nur empfehlen kann, wurde übrigens von Netflix produziert:

10. El botón de nácar von Patricio Guzmán

Mit dem besten Drehbuch ausgezeichnet und den Erfolg der lateinamerikanischen Produktionen auf der Berlinale komplett machend, macht Patrizio Guzmán in diesem Film, das, was er am besten kann: mit klugen Bildern und Texten den Zuschauer in den Bann seines Themas ziehen. Und er tut es auf sehr raffinierte Weise. Eine Verbindung zwischen dem Thema der Kolonialisierung der indigenen Bevölkerung und dem Ermorden politischer Gegner in der Diktatur unter Pinochet herzustellen, ist gar nicht so einfach. Es anhand des Titel gebenden Perlmuttknopfes zu tun, scheint unmöglich. Doch es gelingt Guzmán überraschend gut. Ein ergreifender Dokumentarfilm, den ihr euch unbedingt auf der großen Leinwand angesehen solltet:

Epilog: Lohnenswerte Neuerung: Serien auf dem Festival

Zum Abschluss noch eine lobende Erwähnung für ein ganz besondere Event auf der Berlinale: Die Ausstrahlung der ersten beiden Folgen von Better Call Saul, in Anwesenheit von Hauptdarsteller Bob Odenkirk. Sein Zitat an dem Abend: «Saul is a great loser. I like the character.».

Bezeichnend, dass auf der Berlinale täglich auch eine internationale TV-Serie gezeigt wurde. Von vielen zum Beispiel hoch gelobt die italienische Serie «1992». Kennzeichen dafür, dass die gut gemachten Serien längst in Kino-Qualität produziert werden. Deshalb auch nur zu verständlich, dass sie auf den Kino-Festivals gezeigt werden. Den Better Call Saul-Auftakt im Kino zu erleben, hatte wirklich was besonderes. Und der «Breaking-Bad»-Auslagerung, woher die Figur des schmierigen Anwalts Saul Goodman ja stammt, ist wirklich verdammt gut.

Freue mich schon darauf, den Berlinale-Traler wieder 5-6 mal pro Tag vor meinen Augen schwirren zu sehen. Und euch drück ich die Daumen, dass ihr möglichst viele der hier vorgestellten Filme zu sehen bekommt.

Berlinale-Trailer 2015

8 Kommentare zu „Festivalbericht 2015: Zehn Film-Tipps von meiner 20. Berlinale“

  1. Danke für diesen Filmbericht! Die Nummern 1, 3 und 4 sind schon mal fest eingeplant. Schon erstaunlich, dass du diese Fülle verarbeiten und in komprimierter Form so für uns darstellen kannst

  2. So, jetzt hab ich endlich auch die Zeit gefunden, Deinen Festivalbericht komplett zu lesen und mir die Trailer anzuschauen. Vielen Dank, dass Du Dich auch dieses Jahr wieder die Mühe für uns gemacht hast! Die Filme 4,5,6,8,9 und 10 hab ich mir notiert. Was davon ich tatsächlich zu sehen bekommen werde, ist natürlich eine ganz andere Frage. Die Frage ist ja, was wird überhaupt übersetzt bzw. bekommt wenigstens englische Untertitel und was schafft es überhaupt in die deutschen Kinos.Gerade die Dokumentarfilme werden ja fast nur noch in Spartenkinos gezeigt, und die gibt es hier auf dem flachen Land noch weniger als in den Städten. Aber ich bin gespannt. Die Filmtitel sind notiert und den ein oder anderen werde ich sicher mal vor Augen kriegen, auch wenn ich etwas länger warten muss.

    Nochmals lieben Dank für die Mühe!

    1. @Liisa: Danke für’s Feedback. Ja, das ist jedes Mal auf neue die Frage: schaffen es die Filme auch ins Kino? Meistens hat man nach einer gewissen Zeit auch die Chance, sie wenigstens im TV zu sehen. Ich weise darauf dann beizeiten gerne (auf Twitter) hin. Genau wie auf mögliche Kino-Ausstrahlungen.

  3. Ach, es gibt so schöne Traditionen. Vielen Dank für deine – wie immer herbeigesehnte und doch erst spät kommentierte – Zusammenschau DEINER Berlinale.
    Leider hat es ja mit einem persönlichen Treffen nicht geklappt, aber immerhin habe ich 2 dieser Filme auch gesehen und kann sehr gut verstehen, dass sie auf der Liste gelandet sind (El Club und What happened, Miss Simone). Ich werde auf jeden Fall Ausschau nach den anderen 8 halten (besonders Taxi) und überhaupt nach dem ein oder anderen Film, der in Berlin vorgestellt wurde. Die ersten sind ja schon im Kino.
    Ein bisschen gefreut habe ich mich auch über die Preise für “El hombre nuevo” (http://blog.teddyaward.tv/blog/2015/02/13/teddy-gewinner-2015/) und “The diary of a teenage girl” (https://www.berlinale.de/de/das_festival/preise_und_juries/preise_generation/index.html), wobei der schon sehr speziell war…
    Also, muchas gracias noch mal und gute Nerven für den Umzug und die Vorbereitung desselbigen!

  4. @Carmen: Ja, schade, dass wir uns nicht sehen konnten. Aber ich hatte ja leider auch jeden Tag von morgens bis spät nachts (fast durchgehend, wie Du gesehen hattest) Filme. “El hombre nuevo” hatte ich auch gesehen. Guter Film, in der Tat.

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