Festivalbericht San Sebastián 2014

San Sebastián: Filmfestivalpalast Kursaal

Nach den Fotos aus San Sebastián nun der angekündigte Festivalbericht. Ich habe in neun Tagen 51 Filme gesehen. Die zehn Filme, die ich am meisten empfehlen kann (plus zwei lobende Erwähnungen) hier in einer Auflistung, deren Reihenfolge keine Wertung darstellt. Die Filmtitel verlinken jeweils in die englischsprachige Filmbeschreibung mit Inhaltsangaben, weiteren Fotos und Infos zur Besetzung und dem Team der Filme.

Hier nun als Ergebnis der Auswertung meiner Unterlagen meine persönliche TOP 10 aus San Sebastián:

1. «Mommy» von Xavier Dolan (Kanada):

«Mommy» ist so ein Film, zu dem die Bezeichnung harter Stoff sehr gut passt. Mit 134 Minuten mit einer der quälendsten, doch auch sehr eindrücklich im Gedächtnis bleibenden, Filme des Festivals. Es geht um eine überforderte Mutter und ihren 15-jährigen an ADHS leidenden Sohn. Mommy, stark gespielt von Anne Dorval, ist hin- und hergerissen zwischen dem Willen, die mehr als schwierige Erziehung doch irgendwie zu schaffen oder doch zu kapitulieren und den Sohn an staatliche Institutionen “abzugeben”. Hier wird genauso schonungslos wie liebenswert ein Mutter-Sohn-Beziehung geschildert, die durch den selten zur Ruhe kommenden Energie-Überschuss des Sohnes, der auch vor Gewalt gegen seine Mutter nicht zurückschreckt, auf eine harte Prüfung gestellt wird. Dass der mittlerweile 17-jährige kanadische Hauptdarsteller Antoine Olivier Pilon, der im Film den 15-jährigen Sohn spielt, nicht mit dem Darsteller-Preis des Festivals belohnt wurde, hängt sicherlich nur damit zusammen, dass «Mommy» nicht im Wettbewerb lief. Mit Abstand die beste Darstellungsleistung, die ich auf dem Festival gesehen habe.

Hier noch ein Interview mit dem erst 25 Jahre alten Regisseur Xavier Dolan, der auch das Drehbuch zum Film geschrieben hat.

2. «La isla mínima» von Albert Rodríguez (Spanien):

Ein sehr professionell produzierter Krimi, der im Jahr 1980 spielt, zur Zeit der spanischen Transición. Auch wenn die Auflösung des Kriminalfalles im Vordergrund steht, gibt es auch politische Implikationen in der Nach-Franco-Zeit Spaniens. Hervorragend gefilmt (mit geradezu unglaublich gut inszenierten Aufnahmen des Guadalquivir), sehr detailgetreu ausgestattet. Dazu passend: ein deutsch untertiteltes Interview mit Fernando García, dem Kostümbildner für «La isla Mínima» (und andere spanische Filme), in dem deutlich wird, dass ein guter Film auch immer eine gute Ausstattung bzw. gute Kostüme braucht. Auch interessant: ein sehenswertes Interview auf Antena 3 mit dem sympathischen Hauptdarsteller Raúl Arévalo, der dieses Jahr gleich mit drei Filmen auf dem Festival präsent war und bei der Preisverleihung den Preis für seinen Schauspielkollegen Javier Gutiérrez abgeholt hat, der für seien Rolle in «La isla mínima» als bester Darsteller prämiert wurde: Raúl Arévalo y el desayuno de los campeones (18 Min.).

3. «Magical Girl» von Carlos Vermut (Spanien):

Die Handlung: Die 12-jährige an Leukämie erkrankte Alicia wünscht sich ein extrem teures Magical-Girl-Kleid der japanischen Sängerin Megumi. Der arbeitslose Vater kann seinem todkranken Kind diesen Wunsch auf legalem Weg nicht erfüllen. Der Weg, den er in seiner Verzweiflung beschreitet, führt nicht nur in einen Abgrund voller Leidenschaft, sondern die Umstände, in denen er tut, was er tun muss, sind gleichzeitig auch eine Anklage an das, was die Krise aus den Menschen macht.

Von dem erst 34-jährigen Regisseur Carlos Vermut wird man noch viel hören. Nicht nur, weil er mit «Magical Girl» die Concha de oro (Goldene Muschel), den Hauptpreis des Festivals und die Concha de Plata (Silberne Muschel) als Bester Regisseur gewonnen hat, sondern weil er in der tat in schon jungen Jahren eine eigene Filmsprache gefunden hat. Der als Comiczeichner gestartete Spanier hat 2009 mit dem Kurzfilm «Maquetas» auf sich aufmerksam gemacht, mit dem er die VII. Ausgabe des Kurzfilmwettbewerbes Notodofilmfest gewonnen hatte. Das Drehbuch umschifft nicht immer geschickt die Klippen der Unglaubwürdigkeit, doch ist der Film insgesamt sehr sehenswert.

4. «Samba» von Eric Toledano (Frankreich):

Eric Toledano hat wieder zugeschlagen und ein schwieriges Thema in einer Sozialkomödie verarbeitet, die man sich gerne anschauen mag: Nach «Ziemlich beste Freunde» (Intouchables), den ich in meinem Festivalbericht 2011 schon wärmstens empfohlen hatte, und der 2012 zum erfolgreichsten französischen Film in deutschen Kinos wurde, geht es in «Samba» um eine Frau, die sich nach einem Burn-Out ehrenamtlich sozial engagiert und dabei Einwanderern hilft, und um eben einen solchen Einwanderer mit Namen Samba. In den Hauptrollen: Charlotte Gainsbourg und Omar Sy. Und ganz großartig: Tahar Rahim, der Sambas Kumpel spielt. Als algerischer Einwanderer gibt er vor, Brasilianer zu sein, weil das bei den Französinnen besser ankommt. Schöne Szene in diesem Kontext: Wenn er mit Samba als Fensterputzer jobbt und im Stile der berühmten Coca-Cola-Werbung einen recht körperbetonten Tanz im freien Oberkörper hinlegt, um französische Bürokauffrauen an die Fenster zu locken.

5. «Relatos Salvajes» von Damián Szifrón (Argentinien):

Wer gerne Kurzgeschichten liest, wird diesen Film lieben. «Relatos Salvajes» ist eine Zusammenstellung von Kurzfilmen, die – wie der Titel schon andeutet – wilde, gewaltvolle (meist tödlich endende) Geschichten erzählen, die mit so großartigen argentinschen Schauspielern wie Ricardo Darín und Darío Grandinetti besetzt sind. Produziert von den Almodóvar-Brüdern Pedro und Agustín (El Deseo).

6. «Carmina y Amén» von Paco León (Spanien):

Wer den spanischen Roman «Cinco Horas con Mario» von Miguel Delibes kennt, wird sich bei «Carmina y Amén» daran erinnert fühlen. Wie auch bei Delibes geht es in Leóns Film um eine Frau an der Seite ihres soeben verstorbenen Mannes. Der Hintergrund ist aber ein ganz anderer: Während es sich bei der literarischen Version um eine Maßnahme der Zensurumgehung unter Franco handelte (eine trauernde Frau durfte am Totenbett ihrem Mannes Dinge vorwerfen, die sich eine Frau in dieser Zeit dem lebenden Gatten gegenüber nicht hätte erlauben dürfen), ist hier zunächst vordergründig ein sozialer Grund Ursache für eine ganz besondere Totenwache. Eine von Carmina Barrios, die auch im Kino bei der Vorstellung des Films gemeinsam mit dem Regisseur anwesend war, in der Hauptrolle wunderbar gespielte schwarze Komödie.

7. «Hermosa Juventud» von Jaime Rosales (Spanien):

Jaime Rosales, den ich die Ehre hatte im Vorjahr auf einem Kolloquium in der Spanischen Botschaft zu treffen, ist einer meiner spanischen Lieblingsregisseure. Für mich ein spanischer Fassbinder, zum Glück einer, der sorgsamer mit sich umgeht als das deutsche Pendant. Mit 45 Jahren hat er erst 5 Filme gedreht. Darunter so großartige wie «Las Horas del día» (2003) oder «La Soledad» (2007). In «Hermosa Juventud» geht es um ein junges spanisches Paar, das wie so viele junge Spanier keine Arbeit findet und für das die Hoffnung in der Arbeitssuche in Deutschland liegt. Lakonisch stille Aufnahmen, und dabei doch so gewaltvolle Realität ins Kinoformat gepresst, dass es weh tut. Aber auch fesselt, wenn man sich drauf einlässt. Die Filme von Rosales sind nichts für Liebhaber temporeicher Filme. Ich mag seine Filme sehr. Auch diesen. 😉

8. «En tierra extraña» von Icíar Bollaín (Spanien):

Wie schon in «Hermosa Juventud» geht es auch bei «En tierra extraña» um junge Spanier, die das Land Richtung europäisches Ausland verlassen, um der Krise zu entfliehen und um einen Job zu finden, und sei es nur als Tellerwäscher oder Zimmermädchen. Hier als Dokumentation und am Beispiel von Edinburgh, wo 20.000 (!) Spanier leben. Von Icíar Bollaín stammt der sehr starke Film «Te doy mis ojos» (2003). Ihre Spielfilme haben immer auch dokumentarischen Charakter. So erstaunt es nicht, dass sie mit «En tierra extraña» eine starke Dokumentation zur neuesten Welle der spanischen Gastarbeiter-Migration außerhalb der Iberischen Halbinsel abgeliefert hat.

9. «Lasa eta Zabala» von Pablo Malo (Spanien):

Der reale Fall hat sogar einen eigenen Wikipedia-Artikel: Caso Lasa y Zabala. Die beiden 18-jährigen Basken Lasa und Zabala wurden 1981 von der GAL (deutsch: antiterroristische Befreiungsgruppen) getötet. Der Film behandelt somit die ersten Opfer der GAL. Im Mittelpunkt steht die Gerichtsverhandlung des Jahres 1995 und die im Rahmen dieser Aufarbeitung vorgenommene Rückschau auf die Ereignisse aus 1981. Diesen Film im Baskenland gesehen zu haben, war natürlich sehr speziell.

10. «The Drop» von Michaël R. Roskam (USA):

«The Drop» ist ein amerikanisches Krimidrama des belgischen Regisseurs Michaël R. Roskam. In den Hauptrollen sind Tom Hardy, Noomi Rapace, und – in seinem letzten Film – James Gandolfini zu sehen. Der Film basiert auf der Kurzgeschichte «Animal Rescue» von Dennis Lehane, von dem auch das Drehbuch stammt. «In Brooklyn money changes hands all night long», heißt es gleich zu Anfang des Filmes. Und darum geht es auch: Drogendealer suchen sich bestimmte Kneipen aus, in denen nachts die frisch “verdiente” Kohle bis zur Abholung abgeliefert wird. Diese Lieferungen stellen für die beteiligten Bars Verdienstmöglichkeiten, aber auch zuweilen tödlich endende Gefahren, dar. Was das Ganze mit einem in der Mülltonne gefundenen und geretteten Hundewelpen (Titel der Kurzgeschichte: «Animal Rescue») zu tun hat, mag zunächst verwundern, wird aber in «The Drop» schlüssig erzählt. Nach so vielen in San Sebastián gesehenen Problemfilmen ist dieser, trotz Gewalt und peripher behandelter Drogenproblematik, einer der leichter verdaulichen Filme des Festivals. Spannendes und sehenswertes, gut gemachtes Unterhaltungskino. Muss auch mal sein. 😉 Start in Deutschland: am 4.12.2014.

Abschließend spreche ich noch zwei lobende Erwähnungen aus:

11. «Una noche sin luna» von Germán Tejeira (Uruguay), wegen der wunderbar traurigen Rolle der Mautgebührkassiererin.

12. «Phoenix» von Christian Petzold (Deutschland) wegen des sehr eindringlichen Film-Finishes. Christian Petzold ist einer meiner deutschen Lieblingsregisseure. «Phoenix» ist zwar nicht sein bester Film (an «Barbara» kommt er nicht ganz heran), aber sehenswert ist er schon. Und mit dem Preis der Internationalen Filmkritik (Fipresci) wurde er in San Sebastián vom Internationalen Verband der Filmkritiker ausgezeichnet. Seit 25.9. auch bei uns in den Kinos zu sehen.

7 Kommentare zu „Festivalbericht San Sebastián 2014“

  1. Vielen Dank Markus, dass Du Dir auch dieses Jahr wieder die Mühe gemacht hast, das Filmfestival San Sebastian für uns nachzubereiten und die Trailer zu den Filmen herauszusuchen. Ich bin ja immer wieder platt, wie viele Filme, Du in so kurzer Zeit schaust.

    Ich habe mir von den von Dir hier vorgestellten und empfohlenen Filmen die Filme «La isla mínima», «Samba», «Carmina y Amén», «En tierra extraña» und «Lasa eta Zabala» notiert. Mal sehen, ob und welche davon es auch ins deutsche Kino schaffen werden. «Samba» vermutlich sicher, bei den anderen … na, mal sehen.

    «Phoenix» will ich auf jeden Fall auch sehen. Da hab ich den Trailer von gesehen und war sofort gefesselt. Heftig aber sicher auch gut.

    Nochmal danke für die Arbeit, die Du Dir mit dem Blog-Eintrag gemacht hast!

    1. @Liisa: Danke für das Feedback und das Interesse an den Filmempfehlungen. Phoenix ist ein beeindruckender Film. Und vielleicht die beste Schauspielleistung von Nina Hoss, die man bisher zu sehen bekam.

  2. Von mir ebenfalls ein herzliches Dankeschön für diesen umfassenden Bericht. Auch ich warte dann gespannt, welcher der von dir vorgestellten Filme es ins deutsche Kino schafft.

  3. Auch von mir MUCHAS GRACIAS für das Vorstellen deiner Festival-Highlights mit so vielen Zusatzinformationen!!! Und auch ich bin gespannt, was ich davon zu sehen kriege. Danke auch für die lobenden Erwähnungen – ganz im Sinne einer Jury – “Phoenix” wollte ich mir nämlich gar nicht ansehen, das werde ich nun aber auf jeden Fall tun.

    Ich war ja schon länger nicht mehr hier und habe noch gar nicht das neue Design gesehen! Wahrscheinlich passt sich dieses hier leichter an die verschiedenen Endgeräte an? Ich hab allerdings ein bisschen gebraucht, bis ich die Suche gefunden habe. Die war sonst für mich immer direkt oben zu sehen. Jetzt musste ich ganz nach unten scrollen. Oder gibt es da noch einen Trick?

    Zur Suche: wollte sehen, ob du “Jack” nach der Berlinale empfohlen hast. Der ist ja jetzt angelaufen. Da ich ihn nicht gefunden habe – dann lieber “Phoenix”;-)

    1. Liebe Carmen,

      es freut mich, dass Du nach langer Zeit mal wieder vorbei geschaut hast. Muss wirklich etwas länger her sein, denn den Relaunch habe ich Ende Juli vorgenommen und erläutert: https://textundblog.de/?p=6182
      Dort kannst Du auch sehen, dass die Suche rechts oben angesiedelt ist. Nun bei kleinen Bildschirmen (oder niedrigen Auflösungen) rutscht sie nach unten. Trick: mit der Tastenkombination “Strg” und “-” kannst Du den Zoom verringern, dann rutscht die Spalte mit den letzten Kommentaren und der Suche auch neben die Artikel nach oben rechts.

      Zu den Filmen: Jack hatte ich auch gesehen. Ist auch kein schlechter Film, der kleine Hauptdarsteller hatte mich auch extrem beeindruckt, nur hatte er es eben nicht in meine persönliche TOP 10 geschafft. Vielleicht kannst Du ja auch beide sehen. Falls nur einer geht, empfehle ich Dir Phoenix. Man muss dem doch sehr konstruierten Drehbuch einiges nachsehen, wird dafür aber durch eine furiose Schauspielleistung von Nina Hoss in ihrer bis dato vielleicht besten Role udn mit einem sehr bewegenden, regelrecht unter die haut gehenden Ende belohnt.

      Ansonsten: willkommen zurück oder dann halt bis zum nächsten Filmfestivalbericht von der kommenden Berlinale im Februar 2015. 😉

  4. OMG – Juli?!
    Naja, manchmal schau ich auf die Schnelle mit dem iPod, und da sieht eh alles anders aus…
    Ja, ich hab n ziemlich kleinen Screen, aber mit der richtigen Schriftgröße sind jetzt SUCHE und LETZTE KOMMENTARE wieder an dem Platz, wo sie hingehören:-)
    Und nochmals danke für die Filmtipps, manchmal ist es ja auch Zufall, was ich dann wirklich sehe – je nach Spielzeit, Kino, Fahrt, Gemütslage, Gesundheit…

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