Berlinale 2013 – Mein Festivalbericht

Berlinale 2013 - unterwegs in der Berliner U-Bahn von Film zu Film

Vor einer Woche ist die 63. Berlinale zu Ende gegangen. Eine Woche ist auch immer der Zeitraum den ich brauche, all die Filme zu verarbeiten, die ich in kurzer Abfolge in 9 Tagen hintereinander sehe, um die besten davon hier vorzustellen. Dieses Mal habe ich “nur” 41 Filme gesehen, während es sonst meist an die 50 sind. Das hängt damit zusammen, dass ich an zwei Tagen je acht Vorlesungsstunden (!) im Rahmen meines Masterstudiums an der HU zu absolvieren hatte und dass ich an drei Tagen abends so erschöpft war, dass ich statt der üblichen sechs täglichen Filme nur fünf geschafft hatte und auf den letzten wegen Schüttelfrost und teilweise schlimmer Kopfschmerzen verzichten musste. Vielleicht kann sich die Berlinale ja mal ein anderes System der Kartenverteilung unter den Akkreditierten überlegen, statt des 90-minütigen Anstehens auf offener Straße am Potsdamer Platz bei den leider im Februar üblichen Minustemperaturen. War ja kein Wunder, dass so viele von uns dabei krank wurden.

Jetzt aber zu den Filmen (der Link im Titel führt jeweils zum Berlinale-Datenblatt mit allen Infos zu Cast & Inhalt und mit Fotos). Welches der beste Film war, schrieb ich ja schon während der Berlinale (daran hat sich auch bis zum Ende nichts geändert):

1. Gloria

Für mich der beste Film im Wettbewerb der Berlinale: Gloria, des Chilenen Sebastián Lelio. Gloria singt gerne laut im Auto, sieht ein bisschen aus wie Dustin Hoffman in Tootsie und zeigt Schwäche und Stärke zugleich. So sehr, dass man sie rasch in sein Herz schließt und diesen einfühlsamen Film sehr wohltuend empfindet:

Die Filmbeschreibung hört sich nicht so prickelnd an (58-jährige geschiedene Frau geht auf Single-Tanzveranstaltungen, um wieder einen Mann kennen zu lernen). Doch was sich dahinter verbirgt, ist ein sehr sehenswerter Film. Nicht zuletzt getragen von der grandiosen Hauptdarstellerin Paulina García. Siehe auch Filmkritik auf rbb: Wie ein Bossa Nova: “Gloria” von Sebastián Lelio. Bärenverdacht (schrieb ich am 12.2.2013). Und sie hat es tatsächlich geschafft: Paulina García ist heute Abend mit dem Silbernen Bären als beste Schauspielerin der diesjährigen Berlinale (alle Preise) ausgezeichnet worden.


2. W imie… In the name of



Die polnische Regisseurin Malgoska Szumowska behandelt in “W imie…” (In the Name of) ein Tabu-Thema: Homosexualität unter Priestern. Auch wenn ich der rbb-Kritik (“Mutig, aber etwas überfrachtet”) zustimme, ist es ein sehenswerter, gut gespielter Film. Großartig in den Hauptrollen: Andrzej Chyra (Priester Adam) und Mateusz Kosciukiewicz (Humpty, der Junge aus der Landfamilie).

3. Paradies: Hoffnung

Vielleicht nicht der beste Seidl (an seinen unvergesslichen Hundstage aus dem Jahr 2001 kommt er wahrscheinlich eh nicht mehr ran, siehe Trailer), aber immer noch sehr sehenswert. Die große Leistung von Seidl, die sich durch all seine Filme zieht: in schwierige Themen einzuführen ohne die betroffenen Personen vorzuführen. Dieses Mal geht es um übergewichtige Jugendliche in einer Diät-Klinik. Die Beschäftigung mit dem Körper dreht sich aber bei den Insassen vor allem um den ersten Sex. Die Hauptfigur, die 13-jährige Melanie, hatte noch keinen, projiziert aber die Sehnsucht danach ausgerechnet auf den schmierigen Klinik-Arzt, einen – wie ich finde – widerlichen Provinz-Casanova. Alles – wie immer bei Seidl – schwer anzusehen, aber gut gemacht, keine Frage.

4. Ayer no termina nunca

Wem «Before Midnight» auf der Berlinale nicht gefiel, weil dabei zu viel gequasselt wurde, dem dürfte auch «Ayer no termina nunca» missfallen. Ich fand ihn aber nicht schlecht (und übrigens auch besser als «Before Midnight»). In kammerartigem Spiel bringt die spanische Regisseurin Isabel Coixet zwei der momentan vielleicht besten spanischen Darsteller vor die Kamera: Candela Peña und Javier Cámara. Das Paar hat sich vor Jahren getrennt. Die Beziehung zerbrach (offenbar nicht nur) am Verlust des gemeinsamen Kindes. «Ayer no termina nunca» heißt auf deutsch: «Gestern hört nie auf». Die Vergangenheit kann auch dieses Paar nicht so einfach ablegen, auch wenn sie schon eine zeitlang getrennte Wege gehen. Dass sie trotz der Trennung viel und nicht nur der Verlust des Kindes verbindet, zeigt der Film aufs Schmerzhafteste. Wer dialoglastiges Kammerspiel nicht scheut, wird diesen Film und das grandiose Spiel seiner beiden Protagonisten mit Gewinn sehen:

5. Narco Cultura

Sicherlich einer der eindrücklichsten Filme der Berlinale (zu sehen war er im Panorama). Um was es geht, erklärt die Filmbeschreibung:

Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez liegt direkt neben dem texanischen El Paso. Jedes Jahr steigt hier Zahl der Toten durch die gnadenlosen Morde der Drogenkartelle. Die Narcos sind die neuen Helden der Popkultur, und zwar auf beiden Seiten der Grenze. Sie lassen sich Erkennungsmelodien komponieren, die ihre Waffen und ihre Stärke feiern, und senden sie nach ihren Gewaltexzessen wie Werbespots über den Polizeifunk. Die Arbeit der Fahnder scheint aussichtslos, nicht nur angesichts von Korruption und Untätigkeit bei der Polizei und in der Politik. Währenddessen tanzen junge Menschen in Mexiko und den USA zur Musik des Movimiento Alterado, das in volkstümlichen Klängen die extreme Gewalt der Narco-Kultur besingt.

Ich kenne ja den Norden Mexikos, die Gegend, in der der Film spielt, sehr gut. Die Bilder der Grenze in Juárez zu sehen, weckt Erinnerungen an meine Zeit in Mexiko. Unfassbar, dass es so etwas wie diese Narco-Musik überhaupt gibt. Nach dem Film versteht man etwas besser, wie das überhaupt möglich ist. Die sinnlose Gewalt und das massenhafte Töten von Menschen ist eh nicht zu erklären. Kein Film für schwache Nerven. Trotzdem einer, der hoffentlich bei uns auch in den Kinos oder wenigstens im TV zu sehen sein wird.

Statt Trailer der gute Beitrag aus ttt über den Film: (Update: da ttt-Bericht nicht mehr online, nun doch der Trailer:)

Um die Herangehensweise des Fotografen Shaul Schwarz besser zu verstehen, empfiehlt es sich auch dieses Video zu betrachten – Meet The Artists ’13: Shaul Schwarz:

6. Workers

Jedes Festival bietet für Vielseher Szenen an, die einem trotz Bildüberflutung nicht mehr aus dem Kopf gehen. «Workers» hält für mich die meisten dabei bereit. Immer ein gutes Zeichen, wenn aus der Flut der Bilder, die man in kürzester Zeit sieht, viele im Gedächtnis bleiben. Der mexikanische Regisseur José Luis Valle hat einen höchst sozialen Film gemacht. Er zeigt Menschen in abhängigen Arbeitsverhältnissen, die – obwohl nah an der Karikatur – ganz nah am Arbeitsleben und an mangelnder Gerechtigkeit in selbiger sind. Da ist die super-reiche Hundebesitzerin, an den Rollstuhl gefesselt und todkrank. Ihre Hündin muss vom Personal fürstlich betreut werden. Nach ihrem Ableben vermacht die Hausherrin das ganze Vermögen der Hündin. Das Personal bleibt eingestellt, so lange die Hündin lebt. Stirbt diese, erben die Angestellten Alles. Auch wenn die Bedingung für die Erbschaft ist, dass Princesa – so heißt das höchst verwöhnte Hündchen – eines natürlichen Todes sterbe, kann man sich vorstellen, was das Personal fortan im Schilde führt. Ein wirklich sehr komischer Film (man ist ja so dankbar, wenn auch ernste Themen lustig behandelt werden). Das Schönste an Workers aber ist sein Humor, findet auch Verena Schmöller auf kino-zeit.de.

Dank Co-Produktion mit Deutschland stehen die Chancen ganz gut, dass man diesen tollen mexikanischen Film auch bei uns wird sehen können. Wenn schon nicht im Kino, dann zumindest im TV.

7. Side Effects

Steven Soderbergh (erst Independent-Regisseur: 1989: Sex, Lügen und Video; 1991: Kafka; später 2001 Mainstream: Ocean’s Eleven) hat wieder Mal einen Film gemacht. Auf der Berlinale lief der Streifen mit Jude Law, Rooney Mara und Catherine Zeta-Jones im Wettbewerb. Side Effects – Nebenwirkungen sind das Übel unserer Zeit. Menschen suchen Hilfe in Medikamenten und – wenn sie diese auch häufig bekommen – bekommen sie eben auch die Nebenwirkungen zu spüren. Ohne zu viel zu verraten: Soderbergh spielt in diesem Thriller geschickt mit den Genre-Erwartungen des Zuschauers. Gegen Ende vielleicht ein bisschen zu viel. Ist eben Hollywood, das darf man nicht vergessen. Insgesamt aber gut gemachte Unterhaltung mit einem wichtigen gesellschaftspolitischen Hintergrund.

8. Prince Avalanche

Der junge amerikanische Regisseur David Gordon Green hat mit diesem Film so eine Art heterosexuelles Brokeback Mountain gezaubert. Ein wunderbarer kleiner Film über zwei sehr gegensätzliche Typen, die in der Einsamkeit der Berge ihrer Arbeit nachgehen: Straßenmarkierungen ziehen. Mit den mehrfach eingebauten surrealen Elementen des Filmes zeigt der Regisseur, das noch Einiges von ihm zu erwarten ist. Also Namen merken: David Gordon Green und hier ein Ausschnitt:

Hier sind die beiden – übrigens sehr guten – Schauspieler zu sehen, und das, was sie über den Film sagen: Paul Rudd and Emile Hirsch on Prince Avalanche.

9. Das merkwürdige Kätzchen

Man kann dem Forum gar nicht genug danken, dass es dieses kleine Filmjuwel ins Programm genommen hat. Der junge deutsche schweizer Regisseur Ramon Zürcher inszeniert darin den Alltag einer Familie in wohl komponierten – von guter Musik geschickt getragenen – Bildern. Diese Familie – samt Freunden – hat nicht nur ein Kätzchen, sondern ganz schön einen an der Waffel. Und im Verlauf des Filmes wird sich der Zuschauer der Ironie des Titels bewusst, wenn er sich fragt: was ist eigentlich so merkwürdig an diesem Kätzchen? Stimme Thomas Grog zu, der den Film so trefflich mit diesen Worten beschreibt:

Eine ganz spezifische Schönheit sucht auch dieser fragile, funkelnde Film: die aufblitzende Poesie des Alltags, die Melancholie des einen kurzen Moments, den Zauber dessen, was als Spur bleibt.

Das merkwürdige Kätzchen from Armin Marewski on Vimeo.

10. Inch’allah

Die kanadisch-französische Co-Produktion (Regie: Anaïs Barbeau-Lavalette) hat den 3. Preis im Panorama-Publikumspreis belegt. Ein Film über eine kanadische Ärztin, die in Palästina (in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland) arbeitet und in Israel lebt. Sie pendelt nicht nur zwischen Ramallah und Jerusalem, sondern zwischen zwei Kulturen, die sie zu verstehen sucht. Dass dieses Unterfangen kein leichtes ist, versteht sich von selbst. Wie kompliziert alles ist (und im verlaufe des Filmes zusehends wird, zeigt Inch’allah in bewegenden Bildern:

Eine der beeindruckendsten Szenen des Filmes beschreibt dei Filminfo mit diesen Worten:

Souverän lockert die Regisseurin ihre Geschichte von unvereinbaren politischen Perspektiven auf, indem sie den Fantasien von Kindern viel Raum lässt, die mit einem Schuh am Ohr mit dem israelischen Präsidenten “telefonieren” oder als “Superman” vom Fliegen träumen.

Kino mit schwerem politischen Gehalt wird dann erträglich wenn es mit Eelemnten des Humors versehen wird. Inch’allah ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch schwierige Themen am besten dann transportiert werden, wenn sie mit angemessenem Humor auch für den Zuschauer erträglich gezeigt werden. Guter Film, unbedingt anschauen, wenn die Chance dazu besteht.

8 Kommentare zu „Berlinale 2013 – Mein Festivalbericht“

  1. Danke für diesen tollen Überblick und deine persönlichen Highlights. 2-3 der Filme habe ich mir auf alle Fälle gleich notiert.

    Ansonsten muß ich hiermal loswerden, daß ich alljährlich zu Berlinale-Zeiten immer nur mit offenem Mund staune, was für ein Mammutprogramm solche Filmfreaks wie Du sich da zusammenstellen. Ein paar dutzend Filme in einer Woche? Daß Du danach überhaupt noch so eine Top10 zusammenschreiben kannst, ohne alles durcheinanderzubringen. Respekt! 🙂

  2. Wenn ich ganz ehrlich bin, weiß ich gar nicht, ob ich Dich für Deinen gesundheitsgefährdenden Enthusiasmus, in so wenigen Tagen die ganze Filme zu besuchen, bewundern, beneiden oder bedauern soll. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit – wie so häufig – irgendwo dazwischen.
    Auf jeden Fall danke ich Dir ganz herzlich für die Mühe, uns Deine Erlebnisse und Ergebnisse mitzuteilen. Für Personen, die (wie ich) Deine Filmauswahl zu schätzen wissen, entsteht so eine Menüabfolge cineastischer Schmankerl, die es unbedingt auf den eigenen Speiseplan zu setzen gilt. Anders als in den Großstädten (wie Berlin und Hamburg – wo Du zuhause bist) können wir allerdings nur auf DAS örtliche Independent-Kino beziehungsweise die öffentlich-rechtlichen Kanäle der Flimmerkiste hoffen …

  3. @Marc & @emathion: Danke für euer Feedback, Freut mich natürlich sehr, wenn meine Filmvorstellungen geschätzt werden. Sie sind für mich selbst auch wichtig, weil ich so über die Jahre hinweg selbst nochmal nachschauen kann, wo ich welchen Film gesehen – und was ich darüber geschrieben – habe.

    So viele Filme in kurzer Zeit zu sehen, hört sich schwieriger an, als es ist. Wenn man begeisterter Kinogänger ist, und zudem weiß, dass es leider viele Filme gar nicht ins Kino schaffen werden, nimmt man die Mühe, 5-6 Filme pro Tag zu sehen, gerne auf sich.

  4. Ich freue mich – wie immer – über deinen persönlichen (und von mir mit Spannung erwarteten) Berlinale-Bericht und die dazugehörigen Filmempfehlungen.
    Dass der ein oder andere spanischsprachige dabei ist, wundert mich nicht wirklich;-)
    Leider habe ich keinen deiner Favoriten sehen können (und dich leider auch nicht in B.), aber so hab ich etwas, worauf ich mich das Jahr über freuen kann. Wenn ich sie denn zu sehen kriege (teile die Sorge von @emathion)… Also, drücke uns die Daumen, dass möglichst viele hier im Kino und/oder TV laufen.
    Aus zuverlässiger Quelle habe ich erfahren, dass derzeit (also nach Festivalende) der ein oder andere Berlinale-Film in der Hauptstadt läuft (im Arsenal?)…

  5. @Carmen: Schade, dass es mit dem kurzfristigen Zusammenschauen eines Filmes während der Berlinale nicht mehr geklappt hat. Und ansonsten drücke ich die Daumen, dass Du einige davon wirst sehen können (es werden sicher einige der spanischsprachigen im 3001 auf der Schanze gezeigt werden). Über eine Ausstrahlung von Berlinale-Filmen (im Arsenal oder sonstwo in Berlin) weiß ich leider nichts.

  6. Danke für den Link zu meiner Kritik – und schön, dass Dir der Film auch so gut gefiel 🙂 Ganz kleiner Hinweis nur: Ramon Zürcher ist nicht Deutscher, sondern Schweizer 🙂

  7. @Thomas: Danke für den Hinweis. Wird korrigiert. Als ich den Film sah, war ich auch davon ausgegangen, dass er Schwezer ist (bei dem Namen Zürcher ja auch naheliegend). Hab mich wohl beim Blogartikel-Schreiben von der Angabe verwirren lassen, dass es sich um einen deutschen Film handelt.

  8. Pingback: Festivalbericht Berlinale 2017 | Text & Blog

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